Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Schriftstellern will man wenigstens diesen behalten, vielleicht ist er eines gewünschten Besserns fähig, und es müsse nicht an Ihnen liegen, wenn Sie das Argument von den konterrevolutionären Umtrieben nicht verstehen, da Sie sich doch aus beruflichen Gründen fragen müssen, wo denn die Revolution sei.«
Den Brief fand ich in den Akten.
Uwe Johnson wollte den Vater sehen, reden, von Schriftsteller zu Schriftsteller, von Leidgenosse zu Leidgenosse, fragen, wie es ihm auf dem Lande ergehe, wie er die Freiheit finde, in die er hineingekommen sei und die dann so anders sei, als man sie sich gedacht habe. Dem Vater gab er den Rat, die ländliche Umgebung zu verlassen. Es sei für einen noch relativ »jungen« Schriftsteller kein Ort zum Wohnen oder Arbeiten, sondern ein Ort für Leute, die sich nach getaner Lebensarbeit zur Ruhe setzten, wie ein Kapitän in seinem Kapitänshäuschen in Oevelgönne in Hamburg. Das hat er gesagt und sprach sich und dem Vater aus der Seele.
Aber auf dem Lande waren die alten Freunde: Nicolas Born, Hans Christoph Buch und ihre Familien. Es kamen neue hinzu. Die Maler von der Werkstatt Rixdorfer Drucke wie Uwe Bremer, Albert Schindehütte, Arno Waldschmidt. Sie waren 1974 von West-Berlin in den Landkreis Lüchow-Dannenberg gezogen. Hermann Peter Piwitt kam aus Hamburg zu Besuch, Kai Hermann legte mir eines Tages Wir Kinder vom Bahnhof Zoo vor die Tür. Man traf sich spontan zum Lamm beim befreundeten Gastwirt, zum Grappa-Trinken in der italienischen Trattoria, zum Grillen am See auf irgendeiner Wiese oder einfach nur so. Plötzlich waren wir nicht die aus dem Osten, wir gehörten dazu, zu dieser Seite, nicht zu der, die wir auf den Spaziergängen auf dem Deich entlang der Elbe sehen konnten. Die Häuser offen, es war ein Kommen und Gehen, beinahe wie früher. Und doch war es anders. Jetzt waren wir nicht verborgen im Kämmerlein, wir konnten zusammen die Gegend erkunden, der Tag nahm kein Ende, und das Fremdsein verlor sich ein wenig.
3
In Köpenick waren die Tage, an denen sie gekommen waren, die Schriftsteller aus dem Osten und dem Westen, sich bei uns im Märchenviertel Geschichten vorgelesen und die Wohnung verraucht hatten, immer viel zu schnell zu Ende. Bevor sie eintrafen, verging die Zeit ungleich langsamer. Jedenfalls für mich. Nicht weil ich auf die Schriftsteller wartete, auf die auch, mehr noch aber wartete ich auf deren Kinder. Wir durften dann, während im Wohnzimmer gelesen wurde, am Schreibtisch des Vaters sitzen. In seinem Zimmer. Wir malten Bilder, stundenlang. Erzählten. Ich vom Osten, sie vom Westen. Fragten. Sie nach dem Osten, ich nach dem Westen. Wir schwiegen auch. Oder wir versuchten, die Kritzeleien auf der Lederdecke, die auf dem Schreibtisch lag, zu entziffern. Kryptische Zeichen, und wir dem Schriftsteller auf der Spur. Und jedesmal viel zu früh der Abschied. Ob es den Erwachsenen auch so ging? Ich weiß es nicht. Aber mir ging es so. Weil diese Begegnungen etwas Ungewöhnliches waren, Außergewöhnliches, weil niemand meiner Klassenkameraden Ähnliches erlebte.
Wie war es überhaupt dazu gekommen?
Die Mutter, der Vater erzählen:
»Bernd Jentzsch hatte ein Visum für zwei Tage nach West-Berlin erhalten. Er gab damals die Lyrikreihe ›Poesiealbum‹ heraus und wollte mit Enzensberger die Auswahl besprechen. Wenn es ihm gelänge, so sagte er, wolle er Günter Grass aufsuchen. Er hatte Glück, Günter Grass war in West-Berlin, und Bernd machte ihm den Vorschlag, ihn umgekehrt doch einmal in Berlin-Wilhelmshagen zu besuchen. Eines Tages war es soweit: Bernd rief uns abends an, ob wir nicht vorbeikommen wollten, wir wohnten ja nur um die Ecke. Es waren noch andere Leute da, der Philosoph Wolfgang Heise, Sarah Kirsch, Reiner Kunze ganz sicher, vielleicht Sibylle Hentschke. An jenem Abend machte Günter Grass den Vorschlag, sich öfter zu sehen, um sich einander Texte vorzulesen. Nicht unbedingt nur literarische.«
Das war der Startschuss für die Schriftstellertreffen, die über drei Jahre dauerten. Auch der Vater war eingeladen worden, von dem nur noch Bernd Jentzsch wusste, dass er Erzählungen schrieb.
Die Realisierung der Zusammenkünfte indes war schwierig. Ich stelle mir eine Geheimloge vor, Eingeweihte kamen zu bestimmter Zeit und mussten zu bestimmter Zeit gehen. Das Losungswort war Literatur. Wer diese Eingeweihten sein durften, wurde sehr genau überlegt, denn nicht jedem konnte man vertrauen. Die Einladungen erfolgten stets kurzfristig,
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