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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schädlich
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Deichstraße könnten wir, nachdem sich höchste Beamte dafür eingesetzt haben, behalten. Doch jetzt, wo wir eigentlich froh sein müßten, stellen wir fest, daß wir natürlich unsere Sachen nicht hineinbekommen. Die Wohnung besteht im Moment aus zwei Zimmern, ca. 40 qm je, die durch Holzpfeiler und Balken optisch voneinander getrennt sind. […] Jochen macht das Unbehaustsein sehr zu schaffen, aber wir hoffen doch alle, in kürzester Zeit eine Lösung zu finden, damit wenigstens ein Jahr danach nun alles in Ordnung ist.«
    Worüber beklagen die sich eigentlich, müssen die Freunde in der DDR, diejenigen, die diese Briefe bekamen, gedacht haben. Im Osten entschied die staatliche Behörde für Wohnraumlenkung darüber, in welcher Gegend und in wie vielen Zimmern man wohnen durfte. Die meisten wohnten in viel zu kleinen Unterkünften, noch dazu mit Kohleöfen; im Badezimmer, wenn es eines gab, Heizboiler für Warmwasser; an Komfort nicht zu denken. Wir hatten in Köpenick besser als viele andere gewohnt, in einer Dreizimmerwohnung, den Garten durften wir mitbenutzen. Im Grünen. Im Westen war alles größer, schöner hergerichtet. Schnell gab es ein Fünfzimmerhaus in Dahlenburg mit großem Garten, Obstbäumen und kleinem Wald, dann die Deichstraße in Hamburg. Ungekannter Luxus. Beinahe aberwitzig erscheinen die Beschwerden. Eine Erklärung kann nur sein: die Maßstäbe, ein festes Gerüst, alles war aus den Fugen geraten. Wir waren überwältigt, und wir waren überwältigt worden, wir waren schon hier und immer noch dort. Wie in der Geschichte, die ich in Amerika gehört habe: Ein Indianer steht an der Straße und will von einem Ort zum anderen. Ein Wagen hält, der Indianer steigt ein. Auf halber Strecke bittet der Indianer den Fahrer anzuhalten, er wolle aussteigen. Der Fahrer fragt, warum? Und der Indianer sagt, er müsse warten, bis seine Seele nachgekommen sei.
    So ging es uns. Vom Land zurück hatte der Vater gewollt, weil er dort nicht arbeiten konnte. »Zu still«, hatte er gesagt. Doch in Hamburg konnte er es auch nicht. Zu laut. Am Abend tobte das Leben in den Restaurants und Kneipen. Vielleicht doch lieber nach West-Berlin. Jeden Tag eine neue Situation. Keine Aussicht auf Ufer. Nach einem Dreivierteljahr im Westen wieder richtungsloses Treiben auf offenem Meer. Das Schwanken des Vaters brachte uns alle ins Taumeln. Bis die Mutter dann doch eine Anlegestelle fand. Ganz in der Nähe vom Elbufer, in Blankenese, eine Wohnung in einer ruhigen Straße, erste Etage von zweien, mit zwei blauen Balkonen, wenn auch ohne Rotdornbaum. Dafür umgeben von Birken. Fast ein Jahr nach der Ausreise wieder jedes Buch im Regal, jedes Bild an der Wand, jede Lampe an der Decke. Ein Zuhause. Das hatte die Schwester gesagt: »Wenn die Lampen wieder hängen, dann sind wir zu Hause.« Doch hier wurde dem Vater das Licht der größte Feind, er verdunkelte das Zimmer, und darin verdunkelte sich seine Seele.
    Das war ein Geheimnis. So wie ich Geheimnisse in Köpenick für mich behalten hatte, behielt ich dieses in Hamburg, ich konnte schweigen. Ich spürte, dass es der Vater so wollte, dass das Spiel »heile Welt« hieß. Dass es kein Spiel war, wusste ich auch. Das hatte man nun davon, davongekommen zu sein, ohne davonzukommen.
    Wann hatte es eigentlich angefangen? In der zweiten Senatswohnung im Speicherviertel? In der ersten Senatswohnung im Nagelsweg, als die Möbel noch eingelagert waren bei einer Spedition? Weihnachten haben wir trotzdem gefeiert. Bloß wie? Einen Baum hatten wir nicht. Oder doch? Vielleicht ein paar Zweige. Was gab es noch? 1 Reisetasche mit Geschenken. Die Mutter hatte vorgesorgt.
    Kurz nach der Bescherung hielt uns nichts in der fremden kalten Stadt mit den gefrorenen Seen in der Mitte. Wir fuhren zu Freunden weiter nach Norden, blieben ein paar Tage. Als wir zurück waren, klingelte es ständig. Keine Männer in Trenchcoats, sondern wie von Geisterhand immer wieder ein anderer Korb. In die Küche getragen und ausgepackt, andächtig, Büchse um Büchse, Schachtel um Schachtel, Flasche um Flasche eine Reise in die neue Welt, die uns umgab. Es klingelten auch Freunde. Mit einem machten sich die Eltern in einer kalten Nacht auf zur heißesten Meile. Das hat mir die Mutter erzählt. Er wollte ihnen zeigen, was es zu sehen gab in Hamburg, dort, wo Männer für Frauen zahlen. Die Mutter musste draußen bleiben. »Wir sind gleich zurück«, sagten die Männer. Sie stand und zog sich feindselige Blicke zu, eine

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