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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schädlich
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Betty das Zimmer räumen. Von da an schlief sie im Arbeitszimmer des Gutsbesitzers auf einer Liege. Bis zum Ende des Krieges, bis die Russen kamen.
    »Ich wachte eines Tages auf. Noch heute höre ich dieses Getrampel. So ist mir das in die Glieder gefahren. Ich war wie versteinert. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich hörte das Trampeln und Reden. Sie legten sich überall hin zum Schlafen. In einer Kammer lagen frische Federbetten. Sie holten alles raus und schliefen sich aus. Und es waren nicht nur Offiziere, auch Soldaten.«
    Sie zogen weiter. Und die nächsten kamen.
    »Wir hatten einen Späher, der aufpassen sollte. Wenn er Russen sah, läutete er die Glocke, mit der normalerweise zum Mittagessen gerufen wurde. Wir ließen alles stehen und liegen und gingen in unser Versteck. Wir sind immer geflüchtet, ich war damals erst siebzehn Jahre.«
    Das Versteck war der Heuboden. Die Leiter wurde hochgezogen, und es gab einen Ausguck. Vor dort sahen sie alles, was sich auf dem Hofgelände abspielte.
    »Einmal wurden alle Männer in den Keller gesperrt, und dann suchten sie nach den Frauen. An dem Tag wurde die Schwester deines Großvaters, Tante Dora, vergewaltigt. Danach hat der Russe ihr eine tote Schwalbe in die Hand gelegt.«
    Als Betty es einmal nicht mehr auf den Heuboden schaffte, liefen sie und ein anderes Mädchen ins Schilf. Hockten stundenlang im kalten Wasser. Von da an wurden sie von den Männern in der Dämmerung zum Schlafen auf einen Kahn gebracht, auf dem Stoffe lagerten. Kleider- und Mantelstoffe aus feinstem Zwirn. »Dora wusste ja, was passierte, wenn die Russen in der Nacht kamen.«
    Auf dem Gut waren auch russische Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter gewesen. »Die Gefangenen waren mit uns vertraut, sie hätten uns nie etwas angetan. Sie waren gut behandelt worden, nicht so wie auf anderen Gütern. Der Russe, der die Wirtschaft machte für die Gefangenen, der, der kochte, holte Lebensmittel, Mehl, Zucker, Brot, Zwiebeln. Er kam zu mir in die Küche und sagte: ›Zwiebola‹.
    Ich sagte: ›Gut, aber erst holst du mir Wasser.‹
    ›Da.‹ Und er holte Wasser.
    ›Jetzt noch nicht Zwiebola. Jetzt erst Holz, klotzo.‹
    Er holte die schweren Sachen für mich in die Küche, und danach bekam er reichlich Zwiebola.«
    Als Großpapa nach dem Krieg als Landrat auf Rügen eingesetzt wurde und die Familie nach Bergen zog, fragte Großmama Betty, ob sie mitkäme. Betty sagte: Ja, das mache ich.
    »In Bergen war ich bis 1948, dann ging es nach Schwerin. Schwerin war Landeshauptstadt, und es kamen oft Geschäftsleute und wollten Genehmigungen. Dafür brachten sie Schnaps oder Zigarren. Peter, der Bruder deiner Mutter, und ich haben manchmal Zigarren geraucht. Mit Peter konnte ich alles machen, der war ein echter Kumpel. Nach fünf Jahren musste ich selber etwas auf die Beine stellen. Ich habe dann eine kaufmännische Lehre begonnen.«
    Betty nahm mich mit in ihre Welt, in die von Großmama. Die neue Welt erkundete ich allein. Im Bus und in der Bahn, auf dem Weg zur Schule, im Umgang mit Kindern, in Kaufhäusern und Einkaufspassagen.
    Dann plötzlich eine Kurskorrektur. Das Haus in Dahlenburg wurde aufgegeben. Die Eltern und die Schwester kamen zurück in die Stadt. Noch einmal eine Senatswohnung mit fremden Möbeln, mitten im Hamburger Speicherviertel, zwischen den Häusern Wasser zum Greifen nah. Für die Schwester und mich war das Haus ein Schiff, die Wohnung das Zwischendeck mit den Kabinen.
    In einem Brief, den ich in den Akten fand, lese ich:
    »So wäre alles eigentlich ganz gut, wenn nur nicht immer noch die endgültige Bleibe in Hamburg fehlte. Die Suche nach ausreichend Wohnraum macht einen wirklich müde und ärgerlich. Es gehört wohl mit zu dem Schlimmsten, dass die Notwendigkeit zu wohnen mit unter die kapitalistischen Marktgesetze fällt. Im Moment bewohnen wir eine sehr komfortable Senatswohnung, zwar mitten in der Stadt, aber sie liegt in einem sanierten Speichergebäude, so daß der eine Blick auf eine schmale, gebogene, frühere Handelsgasse geht, der andere zum Fleet. Wenn man Zeit hat, kann man die Fleetdampfer besichtigen der Hafen- und Kanalrundfahrt und anderen Schiffsverkehr. Das ist schon lustig. Für die Kinder, besonders für Anna, gibt es zwar keine Spielmöglichkeit vor dem Haus, aber so etwas findet man in dieser Stadt sowieso nur in Gegenden, die man nicht bezahlen kann. Überall stehen die parkenden Autos oder der Verkehr braust nur so vorbei. Die Wohnung in der

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