Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Rivalin in fremder Frauen Revier. »Ich friere, und was machst du?« fragte die Mutter den Vater, als die beiden Männer wiederkamen. »Ich sammle Dialoge«, war die Antwort des Vaters. Ich frage mich, ob er sie je verwendet hat. Nun wollte die Mutter auch in ein Etablissement. Ein Striplokal. Eine Animierdame empfing sie, begleitete sie zum Tisch. Sie ging als Ukrainerin, mit folkloristischem Kranzschmuck auf dem Kopf, die Brüste schon gezeichnet von der Zeit. Ich sehe es vor mir, die Eltern, FKK-erprobt und DDR-prüde, neugierigen und schamhaften Blicks in rötlich-rauchigem Raum, laut lachend die Unsicherheit überspielend und auf den Tanz des Russen wartend, den die falsche Ukrainerin als Igor Peniskowski angekündigt hatte.
Ich glaube nach solchen Erlebnissen war selbst die Dampframme vor dem Fenster tags und die Schotterstampfmaschine nachts zu ignorieren. Der Westen war eben laut.
Nein, im Nagelsweg hatte der Vater nicht die Vorhänge zugezogen. Er beteiligte sich am »Literatrubel«, einer Veranstaltung mit Lesungen und Straßendiskussionen mit den verschiedensten Schriftstellern, verteilt in der ganzen Stadt. Ich lese: »Wie zuverlässig aus Hamburger Senatskreisen bekannt wurde, […] sind 1978 darunter auch linke Autoren vertreten. Der Hamburger Senat hat die Schirmherrschaft über diesen ›Literaturtrubel‹. Dem Senat ist bekannt, daß 1978 geschlossen eine Gruppe ehemaliger DDR-Autoren auf dem Rathausmarkt auftreten wird. Darunter werden sich befinden: Biermann, Schädlich, Fuchs, Kunze u.a. Es wird angenommen, daß es zu einer bewußten Demonstration gegen die DDR kommt. Der Hamburger Senat will die Veranstaltung gestatten, aber nicht aktiv fördern.«
Vom Nagelsweg fuhr der Vater auf Lesereisen in noch unbekannte Städte, Salzburg, Göttingen, München. Manchmal fuhr die Mutter mit, zum Beispiel unbedingt nach West-Berlin zur Veranstaltung im Buchhändlerkeller. »Am 17.2. waren wir bei Günter versammelt, haben dort Sarah, Bernd, Wolf B. und Bunge und viele, viele andere getroffen. Es war ein ziemlich wehmütiges Wiedersehen, und Günter hatte die ganze Zeit Angst, daß Wolf seine Gitarre schlägt, und wir uns alle weinend in den Armen liegen«, schrieb die Mutter an die beste Freundin.
Am nächsten Tag besuchten die Mutter und der Vater noch andere Freunde. »Berlin ist mir doch sehr aufs Gemüt gegangen. Alles sieht dort aus wie Köpenick, Grünau oder Schönhauser Allee, nur etwas bunter und greller. Aber sonst ist alles erkennbar. Wo gibt es sonst noch Kiefern in der Stadt?« schrieb die Mutter weiter.
Vielleicht hatte es auf dem Land angefangen, dass sich der Vater zurückzog, nachdem es ihn dorthin gezogen hatte, »wo die Kneipen zu war’n und die Straßen leer«.
Oder waren es die Anrufe gewesen, diese ewigen Anrufe? Vor allem vom Onkel, in denen er von einem »Hexenkessel« berichtete, der gegen ihn veranstaltet werde; dass er niemanden habe, der ihn halte, dass er gar nicht zu fragen wage, ob nicht auch einmal die Möglichkeit bestehe, dass der Vater und die Mutter in die DDR einreisen dürften. Ob sich nicht in Budapest einmal eine Möglichkeit finden ließe, sich wiederzusehen. Dass der Brief, den er geschrieben habe, doch gar nicht so traurig gemeint gewesen sei, der Vater brauche doch keine Schuldgefühle ihm gegenüber zu haben, dazu bestehe kein Anlass.
Auch andere riefen unablässig an, die Mutter sei schuld an allem, der Vater habe nicht in den Westen gewollt, bis er es irgendwann glaubte.
Für mich war die Hauptsache, dass wir wieder zusammen waren. Dass das Leben endlich eine Richtung bekam, einen Hauch von Normalität. Schule. Jeden Tag mit der S-Bahn von Blankenese bis Hauptbahnhof, umsteigen, dann bis Berliner Tor. Morgens eine Dreiviertelstunde hin, und nachmittags eine Dreiviertelstunde zurück. Ich hatte viel Zeit zum Sehen. Ich fand mich ein. In der Schule; das alte Backsteinhaus, davor der baumbewachsene Schulhof mit Tischtennisplatten, so anders als der fünfstöckige Plattenbau in der Mittelheide. In die neuen Fächer; in den Fächern, die ich auch schon in Köpenick gehabt hatte, war ich sowieso weiter als die Mitschüler. In die neue Art des Schulbetriebs. Keine Morgenappelle am Fahnenmast, kein »Seid bereit – Immer bereit«. Keine Gruppenratsvorsitzende, bei der man aufpassen musste, weil man wusste, bei der zu Hause gab es kein Westfernsehen. Kein Ärger, weil ich das Pionierhalstuch nicht trug oder wenn ich dem Pionier im Kunstunterricht geringelte
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