Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
kaum wahr, wollte es nicht sehen. Warum auch? Was konnte schon geschehen, außer dass der Winter kam. Einer der kältesten, den Hamburg gesehen hatte. Unser Auto, der froschgrüne Shiguli, blieb bis zum Frühling unter einer Schneeschicht verborgen. Die Schule fiel aus, weil die S-Bahn-Weichen eingefroren waren, unmöglich, Sylvester aufs Land zu den Freunden zu fahren. Wir blieben in Blankenese, luden die Nachbarin ein, sahen, was die Kühlschränke hergaben, und warteten besinnlich auf das neue Jahr.
Ruhe stellte sich ein, endlich. Nachts einschlafen, ohne sich vor dem nächsten Tag ängstigen zu müssen. Morgens weggehen und wissen, abends sind die Mutter da, die Schwester, der Vater. Großmama kam und blieb für eine Weile. Es wurde warm. Und es versammelten sich wieder Schriftsteller bei uns und lasen und rauchten und tranken und aßen.
Wer konnte ahnen, dass es die Ruhe vor dem nächsten Sturm war. Die Anrufe ließen nicht ab. Die Verwandten von der anderen Seite drängten, der Vater müsse in eine Klinik, in West-Berlin. Es reichte ihnen nicht, dass er in Hamburg in ärztlicher Betreuung war. Der Vater zögerte, bis die Großmutter eines Tages mitten im Winter – vielleicht im Dezember – unangemeldet anreiste. Sie ging an der Mutter vorbei, nahm einen Koffer aus einer Kammer, klappte ihre Tasche auf, holte einen schwarzrot gestreiften Frotteebademantel und braune Igelitpantoffeln heraus, packte beides in den Koffer und sagte: »Wir fahren morgen nach Berlin, ins Krankenhaus.«
Einer Mutter widerspricht man nicht, einer Großmutter auch nicht, der Schwiegermutter vielleicht. Doch gegen die hatten wir noch nie eine Chance gehabt. Ich fürchtete mich vor ihr. Auch mit dreizehn. Das letzte Mal, als sie bei uns war, kurz nach der Ausreise, als der Vater zu einer Lesung fuhr und die Mutter ihn begleitete, hatte sie in mein Ohr geflüstert, mir würde Schlimmes passieren, wenn ich es sagen würde. »Deine Mutter vergiftet deinen Vater, sie kocht zwei Sorten Kaffee, eine für ihn und eine für sich. Langsam geht das.« So sprach sie tagelang, eindringlich, und zeigte es mir beim Kaffeekochen, Tag für Tag, bis die Eltern wiederkamen. Ich sagte nichts, aber dann hatte ich es doch gesagt.
Vielleicht war sie nicht nur gekommen, um den Vater zu holen. Vielleicht holte sie mich jetzt auch.
Die Mutter fuhr mit nach Berlin, im Zug. Die Großmutter saß in einem andern Waggon. West-Berlin, Bahnhof Zoo, Endstation für die Großmutter, zurück in die DDR, das hatte die Mutter verlangt. Den Rest des Weges machte die Mutter mit dem Vater alleine.
5
Als der Vater noch bei uns war, war es schon still gewesen, jetzt war es noch stiller. Und es geschahen geheimnisvolle Dinge.
»Ich kümmerte mich viel um DDR-Literatur. Mit etlichen Schriftstellern, darunter Kurt Bartsch, Adolf Endler, Elke Erb, Bettina Wegner, hatte ich noch in der DDR gesprochen. Mir wurden auch viele Manuskripte über einen westlichen Kurier zugeschickt. Ich ließ sie nicht im Verlag, das hatte etwas mit der DDR-Prägung zu tun. Ich nahm sie mit nach Hause, legte sie in ein Regal. Ich hatte eine enorme Ordnung, weil es wichtige Manuskripte waren. Im Dustern wusste ich, wo was liegt. Eines Tages lag ein Manuskript an einer vollkommen anderen Stelle. Man könnte sagen, na ja, hast es woanders hingelegt. Gleichzeitig schoss mir der Gedanke durch den Kopf, hier war jemand. Aber das vergisst du schnell, man gibt sich doch selber die Schuld, hatte ja auch viel um die Ohren«, erzählt die Mutter.
Wenn wir nach Berlin zum Vater fuhren, wenn wir nicht da waren, kam Bewegung in die Wohnung. Wir hörten es von der Mieterin unter uns, denn sie fragte eines Tages, ob wir die Wohnung Freunden überließen, wenn wir wegführen. Sie hörte nachts immer Schritte. Verunsicherung zuerst. Abwinken dann. Das konnte nicht sein. Und selbst wenn, wem sagen? Man würde uns für verrückt erklären. Man würde sagen, die Spinner aus der DDR, die sehen überall Stasi. Dass wir nicht verrückt waren, geht aus den Akten hervor. Doch diese Fakten hatten wir damals nicht.
Ich lese:
»Krista-Maria Schädlichs feindliche Haltung zur DDR und den in ihr herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen hat sich seit ihrer Übersiedlung in die BRD nicht geändert. Sie reihte sich sofort in den aktiven Kampf gegen die DDR ein und gehört bis heute zu den äußeren feindlichen Kräften, die in erster Linie versuchen, feindlich-negative, oppositionelle sogenannte Nachwuchsautoren der DDR
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