Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
an einer Tafel, tranken Kaffee, rauchten sehr stark und unterhielten sich angeregt. Weiterhin wurde festgestellt, daß mehrere Personen von Schriftstücken etwas vorlasen. Die bekannte Verbindung ›Reifen‹ las über einen längeren Zeitraum aus einem Buch Format A5. Des weiteren fanden sich mehre Schnapsflaschen und Gläser auf dem Tisch.«
Das Treffen dauerte bis nach 11 Uhr nachts. Dann wie immer hastige Verabschiedungen. Schneller Aufbruch.
Die Schriftsteller, die Freunde wurden und einfach nur so zu uns nach Köpenick kamen, besonders die aus West-Berlin – war ja nicht weit –, erwartete ich immer besonders ungeduldig. Nicht, weil sie Schokolade mitbrachten oder Kaugummis, die ich nachts in einen Eierbecher mit Wasser legte, damit ich sie am nächsten Tag und am übernächsten auch noch kauen konnte, sondern weil es die waren, die mit ihren Kindern kamen. Es waren meine Freunde geworden. Meine unsichtbaren Freunde, von allen Kindern aus dem Märchenviertel konnte nur ich sie sehen. Einmal, als die Freunde kamen, flüsterte die Mutter bei der Begrüßung einer Frau uns zu: »Ich glaube, die kenne ich.« Sie unterhielten sich, über Urlaube, von Hiddensee war die Rede. Die Frau kannte die Insel, sie hätte dort gelebt, sagte sie. Und dann war es plötzlich ein Spiel. Frage kam auf Frage. Die Frau kannte die Tante der Mutter, die die Lieblingslehrerin der Frau gewesen war. Die Mutter sah die Frau als junges Mädchen mit einem langen Zopf zur Dorfkirche in Kloster fahren, wo sie Orgel übte. »Sind Sie das kleine Mädchen, das immer mit der Tante zu meinem Vater in die Praxis kam und einen Knicks machte?« soll die Frau gefragt haben.
In Wewelsfleth, gleich nach unserer Ausreise, machte ich den Knicks, so wie Großmama es mir beigebracht hatte. Auch hier gab es Feste, wenn auch ein wenig anders. Jetzt war der Gastgeber Günter Grass, und wir waren die Gäste. Hier kochte er, zum Beispiel Aal. Ich kannte Aal, frisch aus dem Rauch, von Hiddensee. Wenn es ihn gab, liefen wir kilometerweit über die Insel und aßen ihn noch warm aus dem Papier.
Die Aale in Wewelsfleth schwammen im Spülbecken in der Küche. Immer wieder warf ich einen Blick in das Wasser und auf die Tiere, die sich wanden und deren Aufpasserin ich nicht sein wollte. Ich sehe noch, wie der Hauseigentümer, die Schürze blutbefleckt, am späten Nachmittag emsig das Gericht bereitete und der Vater dabei half. Zwei Schriftsteller in norddeutscher Manier.
4
In Hamburg hätte ich Tante Betty, wenn Schule war und das Haus auf dem Land fern, gerne von all meinen Erlebnissen, die mich bewegten, erzählt. Statt dessen erzählte sie mir ihre. Von ihrem Stiefvater, der, als der Lehrer aus dem Dorf empfahl, Betty solle in Bergen weiter zur Schule gehen, Abitur machen, nein sagte. Da war es wieder, das rollende »R«, wie das von Großmama.
»Ich musste mein Pflichtjahr beginnen. Ich kam auf ein Gut in Liddow.« Die Hausherrin, Dora, war die Schwester von Großpapa, sie hatte einen Chemieprofessor geheiratet, mit dem sie nach der Oktoberrevolution nach Russland gegangen war, für einige Jahre. Nach seiner Rückkehr kaufte er sich dieses Gut, das der Bruder von Großmama bewirtschaftete, und zog sich als Privatgelehrter zurück. Von Landwirtschaft verstand er nichts. Sie nahmen das siebzehnjährige Mädchen in die Familie auf. Tante Dora schloss Betty ins Herz, und Betty blieb gerne.
»Seit der Stiefvater das Abitur verboten hatte, seit ich auf das Gut Liddow gekommen war, habe ich selbständig gedacht, habe die Eltern nicht mehr um Rat gebeten. Auf dem Lande bist du verkauft, wenn du dich nicht selber aufmachst. Ich machte, wie ich es mir dachte. Ich hätte es aber auch nicht anders gemacht, wenn ich vorher gefragt hätte.«
Das Pflichtjahr war noch nicht zu Ende, als das Hausmädchen eine Hauswirtschaftslehre begann, auch das wurde von der Gemeinde bestimmt. 1944. Während über den Städten der Luftkrieg wütete, herrschte Ruhe auf dem Lande. Betty arbeitete im Haus und in der Küche. Nach Liddow kamen auch die Großeltern, nachdem sie in Stettin ausgebombt worden waren.
»Als deine Großeltern kamen, wurde das Esszimmer geräumt, und die Familie, vier Kinder und die Eltern, zog ein. Es war eine enge Gemeinschaft, denn es waren auch noch andere Verwandte aufgenommen worden, die in Köln ausgebombt worden waren. Auf dem Dachboden waren Flüchtlinge aus Pommern. Ich hatte ein kleines Zimmer im Parterre.«
Als immer mehr Flüchtlinge kamen, musste
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