Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Strümpfe anzog und darum wegen antisozialistischer Gesinnung einen Eintrag ins Klassenbuch bekam. Kein Ärger, wenn mein Banknachbar aus Versehen dem Weihnachtsmann den Bart abschnitt und sich deshalb wegen Verunglimpfung Walter Ulbrichts zu verantworten hatte. Keinen vorauseilend gehorsamen Klassenkameraden, der mich mit »Schädling« hänselte.
Welch bittere Ironie, dachte ich, als ich die Akten in die Hand bekam. Der Vater wurde jahrelang unter dem Decknamen »Schädling« als operativer Vorgang vom MfS geführt. Der Vater ein Ungeziefer, das vernichtet werden musste.
Im Oktober 1978 schrieb die Mutter an die beste Freundin: »Susanne geht fleißig in die Schule. In Englisch macht sie gute Fortschritte, jetzt lernt sie noch Latein dazu, was ihr Spaß macht und mir auch. Weißt Du eigentlich, daß Susanne neulich in Berlin war? Es war ihr dringender Wunsch, Jan zu sehen, und da hat sie eine Freundin rübergebracht. Ob es gut war für sie, bezweifle ich stark. Sie waren im Plänterwald, und natürlich wollte Susanne gar nicht wieder her. Anfangs war sie sehr aggressiv zu uns. K. hat sie natürlich auch gesehen, der ihr eine Platte von den Puhdys mitgab und dafür Hosenverlängerungen haben wollte. Die Kinder tun einem schon manchmal leid. Anna spricht so viel von Rotkäppchen.«
Die Ungebundenheit in der westlichen Schule erleichterte. Ich war für mich und unbehelligt. Nur manchmal sehnte ich mich nach den Gruppennachmittagen in Köpenick. Nicht, weil wir in Pionierkluft erscheinen mussten und das »Lied vom kleinen Trompeter« sangen oder uns mit der Frage »Wer war Teddy?« das Thälmann-Bild nähergebracht wurde. Sondern ich vermisste die Freunde, die an diesen Pflichtnachmittagen zusammen waren und nur darauf warteten, endlich gehen zu können. Den einen, mit dem ich nach den Nachmittagen im Wald auf unserem Baum saß, den anderen, der erst nach den Gruppennachmittagen dazukam, weil er, wir beneideten ihn, befreit war, denn seine Eltern waren in der Kirche. Meine Freundinnen, die den Firlefanz mitmachten, weil die Eltern es wollten, die aber lieber Tischtennis spielten oder Gummitwist, während wir uns über Gruppenleiter, Halstücher, Wimpel und Handgruß über dem Scheitel mokierten. Ich vermisste dieses Gefühl der Verbundenheit, unsere kindliche Rebellion, die uns zusammengeschweißt hatte und unverbrüchlich war. Zumindest in der Zeit vor der Ausreise. Danach stand eine Mauer zwischen uns.
Erst in Amerika habe ich wieder so eine Nähe gefunden und das Vertrauen. In der DDR musste man sich gegen das System stemmen, wenn man nicht ganz vereinnahmt werden wollte, in Amerika stemmten wir das Leben. Ein paar »Ausländer« in Los Angeles, ein paar »Ausreißer« in Berlin-Köpenick.
Dort riss ich in die Musikschule aus, das war ein Trick. Weil Musik als gesellschaftliche Arbeit galt, musste ich nicht zu den Großveranstaltungen, nicht Lumpen sammeln, Altpapier oder Buntmetall. Statt dessen spielte ich vor russischen Offizieren Mozart oder Telemann und bekam dafür Schnittblumen, die ich der Mutter mitbrachte.
In Hamburg gab es solche Gegensätze nicht, kein klares Dafür oder Dagegen. Es war befreiend, aber auch gewöhnungsbedürftig, dass ich nicht schweigen musste über das, was die Eltern zu Hause sagten. Ich musste nicht »in Wort und Tat immer und überall Partei für unseren Arbeiter- und Bauernstaat« ergreifen, »das rote Halstuch als äußeres Zeichen unserer engen Verbundenheit zur Sache der Arbeiterklasse und ihrer Partei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, zu tragen« musste mir keine Ehre mehr sein. Ich musste nicht so tun, als sei die Freundschaft zur Sowjetunion meine Herzenssache und als wären die Leninpioniere meine besten Freunde. Der Tag, an dem ich Thälmannpionier wurde, war dennoch ein besonderer Tag gewesen. In der vierten Klasse, in der Aula der Schule, legte ich das Gelöbnis ab: »Ernst Thälmann ist mein Vorbild. Ich gelobe zu lernen, zu arbeiten und zu kämpfen, wie es Ernst Thälmann lehrt. Ich will nach den Gesetzen der Thälmannpioniere handeln. Getreu unserem Gruß bin ich für Frieden und Sozialismus immer bereit.« Danach wurden mir das Mitgliedsbuch und das rote Pionierhalstuch überreicht. Ich hatte die Gebote auswendig gelernt, nicht befolgt, und trotzdem, es fehlte mir.
Ich schwebte durch die Monate und ließ Alltag Alltag sein. Verlag für die Mutter, Kindergarten für die Schwester, der Vater am Schreibtisch, wenn auch immer mühsamer. Ich nahm es
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