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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schädlich
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zu ungesetzlichen literarischen Veröffentlichungen in der BRD und West-Berlin zu verleiten. Durch gezielte massive Einflußnahme versuchte die Schädlich, die Gesamtaussage der schriftlichen Ausarbeitungen der DDR-›Nachwuchsautoren‹ gegen die sozialistischen gesellschaftlichen Verhältnisse zu orientieren. Ziel ihrer feindlichen Aktivitäten war, die so von ihr beeinflußten Personen als Vertreter der ›neuen literarischen Opposition in der DDR‹ aufzuwerten und oppositionelle Kräfte auf einer gemeinsamen Plattform zusammenzuführen.«

    Der Winter ging, der Frühling. Der Sommer kam. Als eine Freundin sagte, sie habe einen Freund, der habe ein Haus, es koste nichts, wie wäre es mit einer Pause vom Leben, sagten wir ja zu einem Urlaub auf Sardinien. Der erste im Westen, 1979. Die Mutter hatte an den Direktor der Schule geschrieben: »Wir haben in diesem Jahr nur die Möglichkeit vom 21.5.79 bis zum 15.6.79 Urlaub zu nehmen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie Susanne erlaubten, die Schule vom 28.5. bis 15.6. zu versäumen. Da wir nach unserem Wechsel noch keine Chance hatten zu verreisen, möchte ich nicht gerne Susanne in Hamburg allein lassen, ich glaube auch, ihr täte eine Erholung und ein Erlebnis gut.«
    Und wieder war alles neu. Nun sahen auch wir mit eigenen Augen die Alpen. Jeder Gipfel wurde zur Sensation. Wir aßen zum ersten Mal Bündner Fleisch in einer Beiz in der Schweiz. Wir hörten Elvis-Songs und sangen mit. Übernachtung in Mailand. Milano. Musik in unseren Ohren. Als alle noch schliefen, liefen wir am nächsten Morgen durch die Straßen und sahen uns hungrig und trauten uns nicht, einen Kaffee zu bestellen, weil wir uns sagten, wir sprechen doch kein Italienisch.
    Weiterfahrt nach Genua. Ich habe noch immer das Bild vom Hafen vor mir, ein mediterranes Gemälde. Wir kamen aus dem Sehen nicht mehr heraus, und der Freund der Freundin sagte, er sehe mit uns alles wie wir. Der Blick der Fremden, unsere Begeisterung, erneuerte den Blick des Freundes auf das Bekannte. Das hatte uns auch noch keiner gesagt.
    Von Genua aus sollte es mit der Fähre weitergehen. Aber es ging nicht weiter. Streik! Der Mutter fiel gleich die erste Zeile von dem Arbeiterlied »Bandiera rossa« ein: »Voran du Arbeitsvolk, du darfst nicht weichen …«, weiter wusste sie nicht. Stundenlang mussten wir warten, schließlich fuhr doch noch ein Schiff durch die Nacht. Überfüllt. Kein Platz zum Sitzen, geschweige denn Schlafen. Die Erwachsenen tranken an der Bar Sambuca gegen die Kälte, und für uns schob die Mutter Stühle zusammen und deckte uns mit Zeitungen zu. Zeitungen wärmen. Das wusste sie von Großmama.
    Und auf der Insel der erste Einkauf. Die Mutter könnte doch Latein, sagte ihr die Freundin. Das würde schon gehen. In einer Bäckerei verlangte die Mutter Brot. Die Verkäuferin starrte sie verständnislos an.
    Die Mutter: »Habe ich es denn so falsch ausgesprochen?«
    Wir: »Du hast russisch gesprochen.« Sie hatte es gar nicht gemerkt.
    Sardinien, die ganze Reise war auch so ein Anfang der neuen Zeitrechnung für uns. Weil eben alles zum ersten Mal war. Auch das erste Mal Palmen, Mittelmeer, Krabben. Das hatte es auf Hiddensee nicht gegeben. Auf unserer Insel, Sommer für Sommer, im Dorf in Kloster in einem gemieteten Keller. Die Waschgelegenheit eine Plastikschüssel, vier Mann hoch in einem Zimmer, wenn es regnete, die Ratten auf dem Treppengeländer. Egal. Hauptsache Hiddensee. Der Leuchtturm, die Vogelwarte, die alte Frau Petri, wenn man Gemüse brauchte, das Museum am Strand, in dem der Bruder arbeitete und wir freien Eintritt hatten. Die langen Wege zum Strand hinter der Mole. Die eingeschworene Gemeinde am FKK-Strand in den Sandburgen, wo mittags gegrillt wurde, jeder etwas mitbrachte. Theaterleute, Schriftsteller, Musiker, Kinder. Und der Onkel mit seiner Pfeife, am Strand und auf den grünen Hügeln, von denen wir einen verregneten Sommer lang täglich die weißen Champignons pflückten, man brauchte sich nur zu bücken, die Wiesen waren weiß gesprenkelt, und wir konnten Rühreier mit Pilzen bald nicht mehr sehen. Oder abends in die Inselbar, ich durfte mit zum alten Paul, der, wenn er hinter dem Tresen stand, seinen Stumpf auf den Barhocker legte und sich das Holzbein anschnallte, wenn er mit Zigarre im Mund Bier und Bauernfrühstück an die Leute in der verrauchten Stube verteilte – ich war der blinde Passagier auf einem Piratenschiff und lauschte dem Seemannsgarn oder dem Nebelhorn in

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