Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
entlang. Titel lesen. Wie heißt es? Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist. Ich sehe Brecht, Max Frischs Tagebücher, historische Werke über den Zweiten Weltkrieg, den Spanischen Bürgerkrieg, Atlanten. Wörterbücher, Englisch, Ungarisch. Sybille-Modehefte. Biographien über Kim Philby, Erich Mielke, Markus Wolf, ein Buch über die Mechanismen und Arbeitsweisen des Staatssicherheitsdienstes, eine Art Handbuch noch aus DDR-Zeiten. Von solchen Schriften gibt es nicht nur eine. Ein Buch des Vaters gibt es nicht.
Die paar Möbel angeschlagen. Die Buchrücken abgerissen. Der Boden – beigefarbenes Linoleum – angeschmutzt. Kein Teppich. Kalt und trostlos. Hier hat er gelebt, hier habe ich mit ihm gesessen. Es ist kaum vorstellbar. Früher sah es nur ein wenig wohnlicher aus. Eine Junggesellenbude war es schon immer gewesen. In der Küche haben wir gekocht, wenn ich zu Besuch kam aus dem Westen. Und dann kümmerte er sich. Über Jahre. Im einzigen Zimmer haben wir gesessen, vor dem Schreibtisch, andere Sitzmöglichkeiten gab es nicht. Stundenlang geredet. Er war der einzige männliche, erwachsene Gesprächspartner, den ich hatte. Er war für mich wie ein zweiter Vater.
Ich nehme aus Verlegenheit das eine oder andere Buch aus dem Regal, stelle es wieder zurück. Dringe ein in die Wohnung des Eindringlings. Wieder so eine Umkehrung, nichts stimmt mehr in diesem Gefüge aus Vertrauen und Verrat. Liebe und Hass. Fassungslosigkeit. Kopfschütteln. Sprachlosigkeit. Wut.
Ich wollte die Wohnung noch einmal sehen. Warum eigentlich? Mich vergewissern, ob ich richtig erinnere, wie es aussah, als ich mit ihm hier saß und redete. Noch einmal sehen, wie er gelebt hat, dieser Mann, den wir geliebt hatten all die Jahre. Entzauberung. Stille.
Genugtuung empfinde ich nicht. Ich gehe durch den schmalen, kurzen Flur. Auf dem halbhohen Schuhregal neben einem Buch, Zeitungsartikeln, einem Adressbuch und anderem Krimskrams sehe ich eine offene Tabakdose mit Münzen darin. Genau so hat der Vater sein Kleingeld gesammelt, als er noch rauchte. Ich erschrecke sofort. Nur nicht vergleichen. Alles unterscheidet den Vater von diesem Mann, der sein Bruder war. Ich betrachte die Schuhe aus edelstem Leder. Die Jacketts und Mäntel aus teuersten englischen Stoffen an der Garderobe. Ich bekomme Kopfschmerzen. Was bleibt zu sagen, denke ich und wende mich zum Gehen.
Nach Tagen wie diesem fange ich an zu schwanken in meinem Entschluss. Denn wie das erzählen, was erzählt werden sollte, ich aber nicht weiß, ob ich es verkraften kann. Ob es andere etwas angeht.
»Es ist gut, dass du das aufschreibst«, sagt der Vater. »Es ist die Geschichte unserer Familie, deine Geschichte.«
Eigentlich hätte er alles aufschreiben müssen, oder die Mutter, aber sie könnten das nicht bewältigen. Sie seien zu nah dran. Ich könne das, sagt er mir.
Dann denke ich an meine Kinder. Ich schreibe auch für sie. Sie sollen es wissen, später. Bald ist der eine Sohn so alt, wie ich damals war, als es hieß, es gehe in den Westen. Die Mutter war jünger als die Schwester heute. Der Vater war so alt wie ich. Im Vergleich mache ich mir erst klar, was es bedeutet haben muss. Bei der Bewältigung kann eigentlich nur geholfen haben, dass die Eltern die Dimensionen nicht wissen konnten. Es ging über die Vorstellungskraft. Ich kann es mir jetzt vorstellen. Das macht es nicht einfacher, darüber zu schreiben.
Nach den Sommerferien 1979 verlief das Leben in Hamburg in meiner Erinnerung ausnahmsweise ohne große Irritationen. Der Vater war in Berlin. Die Vorhänge zu seinem Zimmer waren aufgezogen. Die Schwere war fort. Es machte uns nicht froh, aber es war eine Erleichterung, zumindest für uns Kinder. Einfach nur das Leben leben. Ich ging zur Schule, fuhr von Blankenese in die Stadt, die Mutter fuhr täglich zur Arbeit nach Reinbek, die Schwester ging in den fünften Kindergarten. Sie ist auch dort aufgefallen als Kind von der anderen Seite. Sang sie nicht mit Vorliebe: »Und wenn ich mal groß bin, damit ihr es wisst, dann werde ich auch so ein Volkspolizist.«
Wenigstens musste sie keine roten Nelken malen. Rote Nelken sind uns bis heute ein Graus. Damals wurden sie uns an die Bluse geheftet. Am 1. Mai oder am Jahrestag zur Gründung der DDR. Oder zu Ulbrichts oder Honeckers Geburtstag. Es gab immer einen Anlass. Die rote Nelke war Kampfblume, sie hatte ungeahnte Kräfte. Sie konnte sogar die schwarze Bürgerrechtlerin Angela Davis im fernen Amerika
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