Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Grünheide kommen. Wir suchten einen Weg, die Texte zu veröffentlichen, wenn nicht im Osten, dann im Westen, damit Jürgen in den öffentlichen Blick käme. Dann wurde Jürgen verhaftet, das geschah an einem Freitag, ein paar Tage nach der Biermann-Ausbürgerung. Pannach, Kunert, Jürgen und Havemann wollten zum Spiegel-Büro in Ost-Berlin. Unterschriften waren gesammelt. Sie fuhren im Auto und wurden in Erkner an der Schranke gestoppt. ›Klärung eines Sachverhalts.‹ Jürgen musste gleich mit. Pannach und Kunert haben sie am Sonntag gekascht. In der Nähe der Weltzeituhr. Abends fuhren in Grünheide Fahrzeuge vor, Lampen wurden installiert, Zäune aufgebaut. Das ganze Grundstück abgetrennt und beleuchtet, die Straße abgesperrt, und ein Haus am Ende der Straße als Stützpunkt in Beschlag genommen. Das sollte uns einschüchtern und abschotten. Nur noch wenige Personen konnten zu uns. Manche wurden zurückgewiesen. Andere wurden abgefangen und verhört. Den Menschen wurde Angst gemacht. Die Bewachung war rund um die Uhr und auf Schritt und Tritt. Wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs war, fuhren sie auf Klapprädern hinterher, das waren die humoristischen Einlagen. In Fürstenwalde in der Behinderteneinrichtung, wo ich arbeitete, standen sie an allen Toren. Ich habe es ein Jahr erlebt. Ich dachte, ich muss es ertragen, nicht in Konflikt kommen, ich hatte auch die Verantwortung für unser Kind, das ich schließlich zu meinen Eltern nach Jena brachte. Man wusste nicht, wie weit die gehen würden. Die Überwachung dauerte vom 19. November 76 bis 1. September 77, bis ich ausreiste, ununterbrochen und überall. Bei jedem, der auf meinen Wegen mich grüßte oder stehenblieb, wurde der Ausweis kontrolliert. Es war die absolute Abschirmung. Wir sagten uns aber, wir bleiben. Die Bedingungen der Verhöre und Haft konnte ich mir nicht ausmalen. Ich hatte zwar Besuche, sogenannte Sprecher, aber man konnte nicht detailliert sprechen, das Ausmaß der Methoden war mir nicht klar. Nach neun Monaten der Verhöre wurden alle drei Künstler im August 1977 ohne Prozess aus dem Gefängnis aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen und nach West-Berlin ausgewiesen. Bei Jürgen war es der 26. August. Es war ein heißer Tag. Vogels Frau hat die drei Männer gefahren, sie wurden Invalidenstraße durchgewunken. Ich wartete auf einen Anruf von ihm, um sicher zu sein, ob er wirklich im Westen angekommen war. Man musste mit allem rechnen. Eine Woche nach seiner Freilassung, am 1. September 1977, folgte ich ihm mit unserer kleinen Tochter in den Westen über den Kontrollpunkt Friedrichstraße. Einen kleinen DDR-Kinderwagen und einen kleinen Koffer, mehr hatte ich nicht. Ende des Sommers 77, wenige Wochen vor euch.«
Mit wem ich auch rede, diese Sache mit der DDR sitzt tief, die Verletzungen, die Wut, der Schmerz.
Lilo sagt: »Wir dachten uns, so kommen die nicht davon, wir müssen jetzt ein paar Dinge versuchen, Leuten Bücher rüberbringen. Es kann nicht sein, dass der Staat sich weiter so aufspielt, es war eine schwere Kränkung, das wollte man nicht auf sich sitzen lassen. Wir haben die Jahre intensiv genutzt, um Sand ins Getriebe zu streuen, oder zumindest, um über die Machenschaften aufzuklären.«
Das sind alles Geschichten, die erzählt werden müssen. Damit man beteiligt bleibt. Damit der Schlußstrich nicht gezogen wird. Aufgebracht zu sein ist nicht der schlechteste Weg. Trotzdem, dieses Einlassen auf die Erinnerungen, das Hochholen, es ist eine kolossale Kraftanstrengung. Sie macht müde und mürbe zuweilen.
Zum Beispiel in der Wohnung des Onkels, in die ich noch einmal gegangen bin. Eintritt in den schmalen Flur. Dumpfer Geruch aus kaltem Tabakqualm und Staub. An der Garderobe Mäntel, Baskenmützen in verschiedenen Farben, Schuhe in einem kleinen Regal. Rechts das einzige Zimmer. Ein Bett, Schreibtisch, Regale mit Büchern. Ein Plastikklappstuhl mit Wolldecke, der als Sessel diente. Auf dem Bett der zusammengelegte Schlafanzug und ein Buch, die letzte Nachtlektüre. Ich lese den Titel: Scherwitz. Der jüdische SS-Offizier.
Ein Aschenbecher mit drei Zigarettenstummeln auf dem Schreibtisch und Papiere, der kleine Fernseher, ein altes Radio auf dem Fensterbrett. Auf einem Regal seine Pfeifen. Alles liegt da, als sei der Raum gerade erst verlassen worden. Man kann ihn noch spüren, den lieben Onkel, der die großformatigen Schwarzweißfotos von mir gemacht hat. Er war auch ein guter Fotograf.
Jetzt gehe ich an den Regalen
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