Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
stürmischen Nächten, das einem im Traum in der Koje Geisterschiffe an Land spülte. Bunt und unbeschwert die Sommermonate, meistens sonnig.
Ich kletterte mit dem Vater die Stufen an der Steilküste hoch zum Ausblick. Bei klarem Wetter konnte man Mön sehen. »Da drüben ist Dänemark. Da dürfen wir nicht hin.«
Draußen im Meer die Patrouillenboote, abends kontrollierten Grenzer mit Maschinenpistolen die Strandkörbe. Bis zur dänischen Insel Mön circa fünfzig Kilometer, mit einer Luftmatratze bei ruhiger See war es zu schaffen, die hielt das Radargerät nicht fest. Viele haben es probiert, manche geschafft, manch einen kostete es das Leben.
Aber was war Dänemark gegen Sardinien. Fahrt durch drei Länder! Nichts konnte uns aufhalten. Ich würde mitreden können mit den Klassenkameraden. Hatte jetzt auch windgesurft, Cappuccino, Pizza, Pasta gekostet und eine Disco besucht. Eine echte, nicht die Schuldisco in der Mittelheide: Jungenwahl, Mädchenwahl. Mit mir tanzte nur der, mit dem ich tanzen wollte, wenn Mädchenwahl war. In Sardinien wurde ich pausenlos gefragt. Ich war die Prinzessin, auch ohne Märchenviertel.
Zurück in Hamburg, lagen im Wohnzimmer die Bücher am Boden. Die Hitze, war der erste Gedanke. Aber das DDR-Regal hatte nicht aufgegeben unter der Last. Als wir sahen, dass in meinem Zimmer die Poster nicht mehr an der Wand hingen, sondern sauber zusammengefaltet auf dem Bett lagen, gaben wir erst recht nicht mehr der Sonne die Schuld. In der Küche lag ein Schlüssel auf dem Tisch. Und wieder die Frage der Mieterin unter uns, ob wir die Wohnung Freunden überlassen hätten. Sie höre nachts immer Schritte oder Geräusche wie Möbelrücken.
»Dass da etwas nicht stimmte, war mir jetzt klar. Ich rief Günter Gaus an, der mir schon zu DDR-Zeiten gesagt hatte, ich dürfe ihn in der Ständigen Vertretung anrufen, wenn einmal etwas sein sollte. Er sagte, morgen um zwölf im Kempinski«, erzählt die Mutter.
Die Mutter flog nach Berlin und schilderte, was vorgefallen war, Schritte in der Wohnung, Bücher am Boden im Wohnzimmer, Poster von der Wand und zusammengefaltet auf dem Bett. Vertauschte Manuskripte. Schlüssel auf dem Küchentisch.
Das sei die Stasi, die hinterlasse Spuren, das wüssten sie inzwischen, sagte Günter Gaus der Mutter.
Das Misstrauen, dieses Gefühl, man wird beobachtet, die Unsicherheit, alles wieder da. In Hamburg hatte man gedacht, bis hierhin kommen die nicht. In Köpenick waren sie gekommen und hatten sich gezeigt. Auch mir. Jetzt kamen sie und zeigten sich nicht. Sie brauchten sich nicht zu zeigen. Sie waren im Westen viel näher dran, als wir ahnten, und nicht nur durch den Onkel.
Ich lese:
»Berlin, den 6. Februar 1978
Der IM erhielt folgende Aufträge:
1. Ständige Berichterstattung über alle Probleme, die mit der Übersiedlung von Dr. H.-Joachim Schädlich im Zusammenhang stehen.«
oder
»Berlin, den 16. November 1978
[…] Die Ehefrau von Schädlich hat als Lektorin beim Rohwoldt-Verlag ein erstes Buch von Rainer Kirsch herausgegeben. Gegenwärtig bereitet sie die Herausgabe von Büchern von Endler, Erb und Bettina Wegner (Lieder und Gedichte) vor.«
oder
»Berlin, 16.5.1979
[…] In diesem Zusammenhang wurde bekannt, daß alle anwesenden Schriftsteller – Schlesinger, Endler, Erb, Kurt Bartsch und auch Bettina Wegner in der nächsten Zeit im Rowohlt-Verlag Bücher herausgeben werden.«
Und: »Es wurde festgelegt, daß der IM Schlesinger nach dessen Rückkehr aus der BRD besucht, um Einzelheiten über H.-J. Schädlich in Erfahrung zu bringen und Informationen über die in West-Berlin und der BRD lebenden ehemaligen DDR-Bürger zu erarbeiten.«
Es gibt Tage, an denen es leichter fällt, sich mit all diesen Dingen zu beschäftigen. Die Verfassung wechselt, je nachdem, inwieweit ich mich als Chronistin fühle oder inwieweit als Beteiligte. Beteiligt war ich, sollte es jetzt nicht sein, wenn ich schreibe, ich sollte abstrahieren, darüberstehen, kühl und sachlich. Das gelingt nicht immer. Mit Menschen zu sprechen, die ähnliches erlebt haben, hilft, mit Lilo Fuchs zum Beispiel: »Ich war vierundzwanzig damals, und plötzlich war man im Westen. Auf unsere Familien wurde Zwang ausgeübt, ansonsten wäret ihr nicht weggegangen und wir auch nicht. Als es deutlich wurde, dass wir in Jena sehr bedrängt wurden und dass Verhaftungsgefahr bestand, Jürgen hatte schon eigene Texte auf kleinen Lesungen vorgetragen, schlugen Havemanns vor, wir sollten nach
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