Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
lief. Meistens der Schwester hinterher zu irgendeinem Spielplatz, an den Aussichtstürmen vorbei, auf denen sich Touristen tummelten. Osten gucken. Oft habe ich mich über die Menschen geärgert, die wie vor einem Käfig im Zoo Fotos schossen, durch das Fernrohr in die Hauptstadt blickten und nichts begriffen.
Manchmal war die Mauer durchlässig, auch schon, als wir noch in Hamburg wohnten. Dann war das Auto die Kutsche und ich der treue Heinrich, und »als sie ein Stück Wegs gefahren waren, hörte der Königssohn, dass es hinter ihm krachte, als wäre etwas zerbrochen. Da drehte er sich um und rief: ›Heinrich, der Wagen bricht!‹
›Nein, Herr, der Wagen nicht, es ist ein Band von meinem Herzen.‹« Ich freute mich, so einfach war das.
Und so einfach ging das. »Am Sonnabend des nächsten Wochenendes (9. September) wollen die Krista Schädlich und der Hans Joachim nach West-Berlin fahren. Sie werden dann ihre Tochter Susanne zusammen mit […] in die Hauptstadt der DDR zu schicken versuchen. Hoffentlich wird die Einreise klappen. Jan will sich dann mit Susanne treffen. Es interessiert die Sch. ob Karlheinz an dem genannten Sonnabend Zeit haben wird. Karlheinz wird sich in Berlin befinden. Der Sch. wäre es lieb, wenn er sich dann ein bißchen um ihre Tochter kümmern würde.«
Sonnabend. »Karlheinz ist bereits aufgestanden, weil Jochens kleine Tochter nachher über den Check Point Charlie rüberkommt.«
Sonnabend, Abend. »Als […] gegen 12.15 Uhr den Grenzübergang passierte, fragte man sie, ob sie das kleine Mädchen abholen will, das sie heute früh gebracht hatte. […] stellte fest, daß ›die‹ ein gutes Gedächtnis haben. […] Für Susanne Schädlich war es jedenfalls ein großes Erlebnis.«
Das las ich in den Telefonprotokollen.
So ging es die ersten Jahre: Irgendein Freund oder eine Freundin der Familie nahm mich im Auto mit nach Ost-Berlin.
Dorthin wollte auch die Mutter, einen Tag vor Antritt ihrer Stelle im Ullstein Verlag. Hatte doch im Juni 1978 schon geklappt!
Immer wieder hatte die beste Freundin gesagt: »Versuch es doch einfach mal.«
Immer wieder hatte sie der besten Freundin gesagt: »Die lassen mich nicht durch.«
Immer wieder hatte die beste Freundin gesagt: »Woher willst du das wissen, wenn du es nicht probierst?«
Also probierte sie es. »Ich stand vor dem Schalter, der Beamte nahm meinen Pass, besah ihn sich länger. Die Leute hinter mir wurden ungehalten. Nicht, weil der Beamte den Pass nicht zurückgab, sondern weil ich den Verkehr aufhielt. Der Beamte nahm einen schwarzen Hörer ans Ohr. Er sagte, ich solle aus der Reihe treten und warten. Der Nächste bitte! Die Leute hinter mir schüttelten im Vorbeigehen den Kopf.
Es kam eine dicke, uniformierte Frau mit einem großen Schlüsselbund.
Sie sagte: ›Kommen Sie mit.‹
Ich fragte: ›Und mein Pass?‹
Sie sagte: ›Gleich. Klärung eines Sachverhalts.‹
Wir gingen vorbei an Posten, Gänge entlang, eine Tür ging auf, ging wieder zu, wieder einen Gang entlang. Vor einer Tür blieb die dicke Frau stehen, schloss sie auf, hielt sie auf.
›Eintreten.‹
Sie machte eine nachdrückliche Bewegung mit dem Kopf, die keinen Zweifel zuließ, dass jede Widerrede zwecklos war. Ich trat ein. Ich stand in einer Zelle, eine Krankenhausliege, ein Tisch, Tür ohne Klinke. An der Wand hing ein weißer Kittel.
Leibesvisitation, dachte ich. Aus mir würden sie nichts herausbekommen. Das schwor ich mir.
›Setzen.‹
Ich setzte mich.
›Tasche.‹ Sie hielt ihre dicke Hand ausgestreckt.
Mein Telefonbuch, schoss es mir durch den Kopf, mit allen Nummern. Ganz falsch, es mitgenommen zu haben.
›Warten Sie, Sie werden untersucht‹, sagte die Dicke, bevor sie mit meiner Handtasche ging. Tür zu. Der Schlüssel drehte sich mehrmals im Schloss. Ich war allein.
Lautes Brüllen aus der Nachbarzelle.
Was würden sie mit mir machen? Wie lange würden sie mich festhalten? Wenn sie mich nicht zurückließen, was dann?
Ich lief in der Zelle auf und ab. Je länger ich lief, desto näher rückten die Wände. Ich hörte das Brüllen aus der Nachbarzelle. Nein, sie konnten mir nichts tun. Ich hatte einen bundesdeutschen Pass. Sie wollen mir ihre Instrumente zeigen!
Nach Stunden das Öffnen der Tür. Wieder die dicke Frau in Uniform.
›Mitkommen.‹
Wieder Türen, wieder Gänge. Noch eine Tür. Dort wartete ein Beamter. Meine Handtasche in der Hand und meinen Pass.
›Rückführung in die BRD‹, sagte die Dicke. Der Beamte
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