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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schädlich
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Richtung Schule. Das erste Mal dachte ich, wenn Marx wüsste, dass es eine Einkaufsstraße ist. Hier in Berlin war alles eine Herausforderung. Die Nähe zu den anderen auf der anderen Seite, die einen nicht besuchen konnten, wann sie wollten, die so nah waren und doch unerreichbar. Das Wissen um die Straßen. Im Kopf hörten sie nicht an der Mauer auf. Ich wusste ja, wie sie aussahen, und kannte ihre Namen. Auch die Schule war eine Herausforderung. Vom ersten Tag an. Eitle Lehrer, die mich vorführten, die sich damit schmückten, dass die Tochter des Schriftstellers Hans Joachim Schädlich in ihrer Klasse war. Ich wollte keinen Sonderstatus, ich verachtete die Lehrer, die jede Gelegenheit, die sich ihnen im Unterricht bot, nutzten, um darauf zu sprechen zu kommen. Die Fragen stellten. Prominent und Ostler! Ewas Schlimmeres konnte gar nicht passieren in dieser Schule, in dem Stadtteil Neukölln.
    Ich will meine Erinnerungen bestätigt wissen, sicher sein, dass ich mich nicht irre, mir kein Bild mache, das inkorrekt ist, treffe einen Lehrer, der später zu einem Freund wurde. Als ich in Berlin im Oktober 1979 in die achte Klasse kam, war er mein Klassenlehrer. »Du setztest dich neben ein Mädchen in der letzten Reihe auf der Fensterseite. Du hast dir ganz bewusst die Leute ausgewählt, mit denen du Kontakt wolltest, ohne provozierend zu wirken auf andere, sondern sehr selbstbewusst. Ein DDR-Stallgeruch umwehte dich nicht, man wusste, dass du aus der DDR kamst, aber es war kein Stigma, sondern ein interessantes Accessoire für uns Lehrer. Es war ein wichtiger Faktor, um bestimmte Besonderheiten festzumachen und zu erklären. Du warst sehr individuell oder hast einen individualistischen Stil geprägt, ohne dass es den anderen auf den Wecker ging. Du hast dich abgesetzt und trotzdem freundlich auch auf die Schüler reagiert, von denen nicht immer nur Positives kam, du wolltest mitteilen und hast zugehört«, erzählt der Lehrer.
    Ich bekam von Mitschülern zu hören: »Geh endlich zurück in den Osten! Sollen wir nachhelfen? Ist ja nicht weit.« Sie meinten es so. Der Osten, das war das Übel und ich eine von dort. Die Stimmung im Klassenzimmer war wie ein Echo der Weltpolitik. Keine Entspannungspolitik, sondern ein Ringen. Draußen auf der Weltbühne um Macht und Einfluss, ein ideologischer Kampf zwischen grundverschiedenen und miteinander nicht zu vereinbarenden Weltanschauungen. Das wurde auch im Geschichtsunterricht deutlich. Wir behandelten das Mittelalter, Begriffe wie Leibeigenschaft, Schutzherrschaft, Vogteigewalt, Dorfobrigkeit. Ich brauchte nur darauf zu warten, dass eine Bemerkung kam wie: Muss dir doch bekannt vorkommen. Vermisst du es nicht?
    Ich hatte großes Misstrauen gegen das Fach. »Es war ein sogenanntes mündliches Fach, und du warst nicht sehr redselig. Du konntest zwar gut reden, aber du warst niemand, der sich in die vorderste Front drängelte und seine Sachen loswerden wollte. Im Gegenteil. Du hattest die Erfahrung gemacht, dass man dich fragte, auf dich zuging ab einem bestimmten Punkt. Du konntest kommen lassen, und dann war es deiner Gnade überlassen, ob du einem einen längeren oder kürzeren Beitrag zu geben bereit warst«, erzählt der Lehrer.
    Ich kapselte mich ab, ich biederte mich nicht an, und ich badete nicht in der Sicherheit der Gruppe. Diese Lektion hatte ich gut gelernt. Ich versuchte über den Dingen zu stehen. Nur so ging es. In der Schule ein Armdrücken zwischen Überheblichkeit der Mitschüler und meiner Selbstbehauptung. Selbstbehauptung auch zu Hause. Die Mutter war arbeiten, die Schwester im Kindergarten. Der Vater hinter zugezogenen Vorhängen und verschlossener Tür. Wenn ich nach der Schule nach Hause kam, kaufte ich manchmal noch ein, bei Edeka, bevor ich in den vierten Stock stieg. Langsam, um die Ankunft hinauszuzögern. Oben, wenn ich die Tür aufschloss, stellte ich mir vor, der Vater würde sie öffnen. Aber immer schloss ich die Tür auf, ging in die Küche, machte das Mittagessen warm, danach Hausaufgaben, danach Schwester abholen. Danach warten, dass die Mutter nach Hause kam. Nach Hause zog es mich nicht.
    Und außerdem kam die Großmutter, nicht Großmama. Sie konnten ungleicher nicht sein.
    Natürlich hatte ich auch die Großmutter besucht, in Bad Saarow am Scharmützelsee, vor unserer Ausreise. Das Gras im Garten stand bis zum Knie. Es gibt Fotos. Sonniges Wetter, Kaffeerunde, scheinbar harmonisch-familiär. Im Garten der Großmutter wuchsen Bohnen, Gurken,

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