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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schädlich
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im Ullstein Verlag zu arbeiten. Das Datum wüsste ich nicht, stünde es nicht in den Akten. Der Aufbruch aus Hamburg ist versunken im Wirrwarr des erneuten Wechsels. Wieder ausmisten, sortieren, überlegen, bevor der Möbelwagen kam. Diesmal keine Packer, nur Umzugsleute, ohne die Blicke, die sich alles merkten und weitererzählten. Die Umzugsleute redeten ununterbrochen, tranken Bier und ließen sich Zeit. Möbel und Kisten standen noch in der Wohnung, als wir schon aufbrechen mussten. Wir kamen mit dem letzten Flieger in Berlin an. Der Shiguli sollte von einem der Möbelleute gefahren werden.
    Wir blieben bei Lilo und Jürgen Fuchs, dort schliefen wir auch. Wir waren vorher schon bei ihnen gewesen, besuchsweise. »Gleich im Sommer 1978 kamt ihr. Es war ein Austausch. Reden mit denen, die auch neu sind. Reden darüber, was jetzt zu tun ist, über Befremdung und Ratlosigkeit. Du warst ruhig, hast nicht viel geredet, deine kleine Schwester war lebhaft, hatte immer so ein lustiges Lachen. Du hattest einen gewissen Ernst und etwas Abwartendes«, erzählt Lilo.
    An jenem Abend wartete ich auf den Vater, und ich wartete auf ein Wunder. Wartete, dass ich wieder zu ihm ins Zimmer gehen konnte, wie ich es in Köpenick getan hatte, obwohl er nicht gestört werden wollte, und nach einer Stange Lakritze fragte. Er bewahrte sie in seinem Schreibtisch auf. Er unterbrach seine Arbeit, gab mir eine Stange, nahm sich eine, und wir spielten alte Männer mit Zigarre. Oder ich wartete darauf, dass er mich zu sich rufen würde, dass er sagen würde, erzähl mir von deinem Stundenplan, wie es in der Schule ist, erzähl von deinen Hausaufgaben. Später sagte er, setz dich, ich les dir etwas vor, und ich hörte von Paul, der meinen Stundenplan hatte und meine Hausaufgaben, der sie nicht machen wollte und sich deshalb mit dem Vielolog einließ, der ihm die Hausaufgaben abnahm und dafür die Konsonanten, die Silben stahl. Das waren glückliche Stunden, als der Vater mich um Rat fragte. Ich fühlte mich erwachsen und war stolz.
    Der Vater kam nicht zu Jürgen Fuchs, er kam erst am nächsten Morgen in die neue Wohnung. Berlin-Neukölln, Altbau an einer befahrenen Straße, gelbgraue Fassade, dunkler Hausflur, Hinterhof mit Mülltonnen. Kein Wald oder Garten wie in Köpenick oder Blankenese. Nichts Gepflegtes. Nichts Tröstliches. Ich hatte gleich das Gefühl, hier herrscht das nackte Leben. Dass es so war, erfuhren wir später, als wir aufgebrochene Autos sahen. Schlafende Obdachlose am Landwehrkanal. Die täglich Betrunkenen an der Imbissbude gleich an der Ecke. Hier herrschte ein rauherer Ton. Keine freundliche Mieterin, sondern eine Frau, die, wenn wir die Treppen hochstiegen in den vierten Stock, ihre Tür einen Spalt öffnete und immer irgend etwas zischte. Die die Hoftür von innen abschloss, wenn die Schwester dort, weil zwischen den Höfen eine Backsteinmauer verlief und man nicht hinüberklettern durfte, mit ihrer Freundin »Mauer« spielte. Die für alles uns die Schuld gab, den Roten von oben. Oder die Frau, die sich im Hinterhof mit einer Nachbarin prügelte und bei jedem Hieb schrie: »Geh doch in den Osten!« Auf unserer Etage die einzige Freundliche im Haus, eine junge, schöne Frau, die auf Krücken ging, weil sie Kinderlähmung gehabt hatte.
    Hier warteten wir also auf den Möbeltransport aus Hamburg und unser froschgrünes Auto. Um 12 Uhr kletterten die Möbelpacker ohne Kisten sturzbetrunken in den vierten Stock und kicherten. Jürgen Fuchs, der bei uns war, fragte den Vater und die Mutter nach Groschen zum Telefonieren, verschwand, kam wieder, und plötzlich richteten ehemalige DDR-Leute unsere Wohnung ein. Sie schleppten die Kisten, stapelten sie je nach Aufschrift in die vorgesehenen Zimmer. Möbel wurden getragen, erst von Stockwerk zu Stockwerk mit Pause, dann von Treppenabsatz zu Treppenabsatz mit Pause, das Verschnaufen dauerte immer länger. Die Schwestern eroberten die Zimmer, den Balkon und suchten aus Kisten Spielzeug, das noch nirgends eingeräumt werden konnte, während es draußen langsam dämmerte.
    In jedem Zimmer Leute. Die einen stellten Regale auf und räumten Bücher ein, andere dübelten die Küchenschränke an. Plötzlich war die Hauptleitung getroffen. Verlängerungsschnüre wurden zusammengestöpselt, aus dem hinteren Teil der Wohnung in den vorderen Licht verlegt. Im Kinderzimmer bauten zwei Umzugsmänner die Schrankwand auf. Jürgen sagte zur Mutter: »Ich glaube, ich muss dir etwas zeigen.« Er

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