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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schädlich
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führte sie ins Kinderzimmer, tippte mit dem Zeigefinger an die Hellerau-Schrankwand, die sich bedenklich nach vorne neigte. Die Hauptschrauben lagen auf dem Boden, und die Umzugsmänner kicherten. Ein Tischlernotdienst kam, baute ab, baute auf. Die Schrankwand stand noch Jahre windschief in der Wohnung in Neukölln.
    Vor noch nicht allzu langer Zeit bin ich in der Gegend gewesen, die Schwester abholen. Nicht vom Kindergarten, sondern von einer Autowerkstatt. Komisch, das Fahren in diese Gegend, das Einbiegen in die Pannierstraße vom Maybachufer aus, wo wir früher an bestimmten Tagen auf dem türkischen Markt Obst einkauften und Gemüse. Den Markt gibt es heute noch. Auch Edeka an der Ecke oder den Kindergarten, direkt gegenüber von der Werkstatt. Da standen wir und sahen den Kindern zu. Jahrelang hatte die Schwester dort gespielt. Jahrelang hatte ich sie dort abgeholt. Jetzt war es wie eine Zeitreise, und die Orte der Vergangenheit muteten wie Trugbilder an.

    In West-Berlin fing ich an, meinen Weg zu gehen. Es gab viel zu erkunden. Wir kannten Blankenese, wunderbare Villen und gepflegte Gärten, baumbewachsene, ruhige Straßen, wo wir im Winter auf der Straße Schlittschuh liefen. Wir kannten Köpenick, das Grimmsche Idyll, den Wald vor der Tür, wo die Kinder aus der Nachbarschaft zusammen durch die Märchenstraßen streiften, wo wir im Wald Baumhäuser bauten. Oder auch Jena, das hügelige Kernbergviertel, wo wir Großmama besuchten, wo wir mit Rollschuhen in Viererkette die Straßen hinunterjagten und auseinanderstoben, wenn alle halbe Stunde mal ein Auto kam. Wo wir Kirschen aus Gärten stahlen oder die Zeitungen aller Nachbarn vertauschten. West-Berlin, der Stadtteil Neukölln, war alles andere als all das. West-Berlin, Neukölln, waren die zankenden Weiber im Hinterhaus, die Säufer an der Ecke am Kiosk am Kanal. Es schreckte ab, aber es weckte auch Neugier. Es rüttelte wach. Es war ein Gefühl von: Jetzt geht es erst richtig los.
    Zuvor war es nicht leicht gewesen, aber wir waren weich gebettet. Jetzt lagen wir auf dem Lattenrost, ohne Matratze, jetzt konnte man spüren. Oder vielleicht fing ich in West-Berlin erst wieder zu spüren an. Plötzlich war ich da. Nicht angekommen, aber da. Mittendrin in der DDR und doch im Westen, vielleicht lag es daran. Die Schizophrenie der Stadt war wie ein Spiegel unserer selbst. Irgendwie waren wir stolz darauf, wer wir waren, dass wir anders waren, und doch hatten wir gleichzeitig dieses Gefühl des Nicht-Dazugehörens. Das ganze Drumherum, dieser Unzustand, tröstete auch. Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen, auf Menschen abgerichtete Wachhunde, nachts taghelle Scheinwerfer, Selbstschussanlagen auf der einen Seite. Auf der anderen Parks und Wege, Laubenkolonien. Und die Mauer war Ballwand für Kinder, Malwand für Künstler und Nichtkünstler. Man konnte die Mauer sogar vergessen. Und wenn es einen in die Ferne zog, bot der Tiergarten mit Beginn des Frühjahrs das Flair vom Bosporos oder der Preußenpark den des Fernen Ostens. Der Teufelsberg wurde zur Zugspitze und der Wannsee zum Mittelmeer. Und wenn es dunkel war, war die eine Halbstadt Kneipe und Bar und Tanzclub mit offenem Ende, während in der anderen Hälfte Totenstille herrschte. Es gab die beleuchtete und die unbeleuchtete Seite, die Mauer war die Tag-Nacht-Grenze.
    Auch vom Mietshaus in der Pannierstraße war sie nur ein paar Schritte weit weg. Über die Brücke über den Kanal, in dem die ermordete Rosa Luxemburg monatelang trieb. Ich stellte es mir immer vor, wenn ich dort entlanglief. Und ich dachte über den Namen des Kanals nach: Landwehr. Landwehren schützten die Bevölkerung gegen Übergriffe von Nachbarn und Feinden in Fehden und Kriegen, aber auch in Friedenszeiten. Ich bog rechts in die parkähnliche Anlage. Dort war gleich die Mauer, der Wall, ein Bollwerk. Bunt bemalt und undurchlässig. Und ich war im Mittelalter. Stieg auf einen der Aussichtstürme, mein Angriffsturm, und spielte Belagerung. Meine Ritter und Knappen rüsteten sich zum Kampf. Der Burgbesatzung auf der anderen Seite bot ich an, unbehelligt abziehen zu dürfen. Aber das Angebot wollten die Verteidiger nicht annehmen, sie hielten es für »ehrenhafter«, im Kampf zu sterben. Mit meinem Angriffsturm aber würde ich die Mauer überwinden, den Bewachern zum Trotz sie zum Einsturz bringen. Dann könnte ich nach Treptow gehen, Enten füttern.
    Manchmal fasste ich die Mauer aber nur an. Fuhr mit der Hand an ihr entlang, während ich

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