Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schädlich
Vom Netzwerk:
reichte mir Tasche und Pass. Ich solle nachsehen, ob nichts fehle. Ich sah nach, aber sah eigentlich nichts, wollte nur so schnell wie möglich weg und weiter.
    ›Und?‹, fragte der Beamte.
    ›Alles da‹, sagte ich.
    ›Nu, mir sind ja och keene Diebe.‹
    Es war 12.40 Uhr, als ich, vorbei an Wartenden, jetzt in die andere Richtung zurück zum S-Bahnsteig Richtung West-Berlin ging. Ich weiß noch, dass es regnete.
    Nie wieder habe ich versucht, die beste Freundin in Ost-Berlin zu besuchen. Einreiseanträge wurden abgelehnt. Die Einreisesperre galt für unbefristete Zeit«, erzählt die Mutter.
    Wir Kinder durften weiter in die DDR fahren. Manchmal ließen sie die, die uns mitnahmen, danach nicht mehr in der Hauptstadt. Als ich älter wurde, ging ich auch alleine, Übergang Bahnhof Friedrichstraße. Auf der anderen Seite wartete der Onkel.
    Ich durfte nach Hiddensee zum Bruder fahren. In Kloster Strand, Kochen, Kneipe, Kino, Kirche, Dorfdisco. Gewohntes und alte Gewohnheiten zur Genüge, nur mit dem Bruder keine brüderliche Nähe. In der DDR waren wir Verbündete gewesen, ihm hatte ich Geheimnisse anvertrauen können, er hatte mich auf dem Schulhof beschützt, er hatte mir aus der Patsche geholfen, wenn ich mal wieder eine Armbanduhr verloren hatte. Die Entfremdung haben wir versucht zu übergehen durch Urlaubsheiterkeit, mit Schweigen nach zwei Briefen aus dem Jahr 1982.
    »Lieber Jan!
    Manchmal werde ich gefragt, ob ich Geschwister habe, und ich erzähle immer von Anna und Dir. Aber Du bist mir fremd geworden, und der Grund ist sicherlich der, daß Du im Osten wohnst und ich im Westen. Allerdings weiß ich nicht, ob es ein Grund sein sollte, denn ich kann nichts dafür, daß ich nicht mehr in der DDR lebe.
    Es macht mir jedenfalls schon ganz schön zu schaffen, daß ich Dich so selten sehe, und daß ich das Gefühl der Entfremdung habe, denn wir sind ja immerhin Geschwister, und ich habe Dich sehr lieb. Deshalb möchte ich auch nicht, dass es immer so weiter geht.«
    »Liebe Susanne!
    […] Ich habe Dir auch nie zum Vorwurf gemacht, daß Du im Westen wohnst: wär’ ja auch lächerlich. Was soll also Deine Rechtfertigung, Du könntest nichts dafür? Ich kann auch nichts dafür, daß ich Dich weder anrufen noch besuchen kann – aber ich kann damit leben.
    Und schließlich das von Deiner Mutter schon arg strapazierte Argument, wir seien ja immerhin Geschwister: glaubst Du nicht auch, daß einem Freunde, die man gefunden hat und mit denen man durch gemeinsame Erlebnisse und Ansichten verbunden ist, mehr bedeuten können als Verwandte, die in einem anderen Land wohnen und die man – wenn’s hoch kommt – einmal im Jahr sieht? Wie kann man jemanden ›lieb haben‹, den man so wenig kennt? Ich glaube, Dir ist genau das unterlaufen, wovor mich Deine Mutter unnötigerweise in Bezug auf Jochen gewarnt hat: sich jenseits der Grenze ein Idealbild zu schaffen, von dessen realem Träger man im Zweifelsfall enttäuscht sein kann.«
    Auch zur Großmama nach Jena fuhr ich. Dorthin für längere Zeit, ganze Ferien lang. Mit der Bahn, so wie früher. Schon als wir noch in Köpenick gewohnt hatten, war ich alleine nach Jena gefahren. Die Mutter brachte mich zum Zug, ins Abteil, bat meistens eine ältere Dame, ein wenig auf mich aufzupassen, bleute mir noch einmal ein, ja in Jena Saalbahnhof auszusteigen. Ich wusste Bescheid, machte es nicht zum ersten Mal, und in Jena warteten Großmama auf dem Bahnsteig und bei ihr Zuhause auf einem Bett in ihrem Schlafzimmer immer Geschenke auf mich. Einmal, die Mutter hatte mich zum Bahnhof gebracht, aber wir waren spät dran, so dass sie mich nicht mehr ins Abteil bringen konnte, war der Zug voll, und obgleich ich eine Platzkarte hatte, ließ man mich nicht auf meinen Platz. Niemand da, der mir helfen konnte. Nur fremde Erwachsene und eine dicke Frau, die für das kleine Mädchen nicht aufstand. Ich saß drei Stunden auf dem Gang, eingezwängt zwischen stehenden Reisenden, auf einem roten Plastikeimer, den mir ein Mann geborgt hatte, der damit von Berlin nach sonstwohin fuhr.
    Von West-Berlin nach Jena hatte ich auch eine Platzkarte. Nun saß niemand da. Und selbst wenn, so glaubte ich, wäre die Person aufgestanden und hätte sich entschuldigt. In Jena wartete Großmama auf dem Bahnsteig. Der bekannte Geruch in der Luft, diese Mischung aus kühlem Frühling, Schornstein und Trabant. Die bekannten Wege. Mit dem Bus über die Saale, an der Schule der Mutter vorbei, aussteigen, die

Weitere Kostenlose Bücher