Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Kernbergstraße hochlaufen, immer auf dem linken schmalen Bürgersteig. Oben an der Ecke beim Konsum ging einem die Puste aus, und dann waren es nur noch ein paar Meter, vorbei an Häusern der Freunde bis zur Treunertstraße 3. Mein zweites Zuhause. Bei Großmama war alles in Ordnung. Bei Großmama war alles wie immer: In der Küche morgens zwischen sechs und sieben saß sie mit Kopftuch und Kittel und säuberte den Ofen von Asche, legte Kohle, Anzünder und Papier ein, damit die Wohnung sich wärmte, und ich durfte mit dem Fidibus das Papier entzünden. Im Esszimmer der braune Schrank mit Heulgesichtern, in der Glasvitrine die Häschenschule aus Holz, über dem Esstisch die Lampe, an der der Mond hing, auf dem die schwarze Katze spazierenging. Morgens der Kaffeegeruch, Frühstück immer zusammen, ich bekam einen Schluck Kaffee. Bei Tisch morgens und abends unter der Woche ein Onkel, der stets zuviel Leberwurst aß und zuviel Quark und auf den Kommunismus schimpfte. Die Einkäufe mit Großmama in der Stadt, das Schlangestehen, zum Beispiel nach Ketchup. »Wir stellen uns einzeln an, es gibt nur zwei Flaschen pro Person, hier hast du Geld, tu so, als kennen wir uns nicht, kauf zwei, die können wir später verschenken, wer weiß, wann es wieder welchen gibt.« So war sie, praktisch, unbeirrbar, stur, dickköpfig – unbestechlich –, auch politisch.
Ich lese: »Die Hübner lebt in Jena sehr zurückgezogen. Ihre gesamte Verhaltensweise ist durch kleinbürgerliche Denk- und Verhaltensgewohnheiten gekennzeichnet. Sie verherrlicht das bürgerliche Konsumdenken und ist ständig bemüht, in den Besitz westlicher Erzeugnisse zu kommen. Dienstleistungen aller Art werden durch sie mit solchen Erzeugnissen honoriert.
Die Hübner wird als politisch unzuverlässig eingeschätzt und ist zu einer positiven Stellung bzw. Handlung nicht zu bewegen.«
Natürlich sah ich auch die alten Freundinnen wieder. Das Wiedersehen verhalten, misstrauisch – mir gegenüber. Das Beäugen meiner Jeans, meiner Schuhe. Früher hatten wir die Schuhe immer getauscht, jeder fand die der anderen todschicker. Kein Wort über Schuhe jetzt. Eher Sätze wie: »Ich muss jetzt gehen, ich muss noch Hausaufgaben machen.« Schließlich doch Kaffee und Kuchen im Haus gegenüber bei der Freundin. Tausendundeine Frage und dann die, die ich nicht vergessen habe.
»Und? Habt ihr schon einen Mercedes?«
Nicht jeder fahre einen Mercedes, sagte ich, und dass ein Mercedes teuer sei, dass wir nicht das Geld hätten, uns einen Mercedes zu kaufen, dass es wichtigere Dinge im Leben gäbe, als einen Mercedes zu fahren.
»Ach komm, du lügst. Du willst bloß nicht sagen, dass ihr schon einen Mercedes habt.«
Ich aß einfach meinen Kuchen weiter.
Der Brief des Bruders, die Frage der Freundin machten mir bewusst, dass sich ein Graben aufgetan hatte zwischen uns. Ich hatte mich verändert, hatte gesehen, was sie nie gesehen hatten und – zumindest sah es damals noch so aus – erst mit über sechzig mit eigenen Augen sehen würden. Die Tatsache, dass ich um eine Lebenserfahrung reicher geworden war, an der sie nicht teilhaben konnten, wurde zum Bumerang für mich. Ich kannte beide Seiten, aber das war kein Vorteil. Im Gegenteil. Ich gehörte nicht mehr dazu, wo ich einmal hingehört hatte. Andere hatten meine Stelle eingenommen. Der Verlust der Freundin, der Schwester war zu verschmerzen. So schwer war es auch nicht, eingerichtet im Haus der Gewohnheit, sicher unter Freunden und Verwandten, aufgehoben im System. Uns, mir ging es anders. Da war die Sehnsucht ins Zurück. Da war die Sehnsucht nach den Freunden und Verwandten. Wie denn auch nicht? Sie fehlten ja im Westen. Es mussten erst neue Freunde gefunden werden. Alles musste neu gefunden werden, wir mussten uns neu finden. Deshalb auch immer wieder diese Reisen ins Zurück, die ein Voran erschwerten.
Stück für Stück eroberte ich mir West-Berlin. Ich fand, die Stadt passte zu mir. Es war auch nur eine Hälfte, die andere lag auf der anderen Seite. Ich fand, sie trotzte, tat, als sei sie ein Ganzes. Es kam sogar vor, dass es mir nichts ausmachte, mich auf einer Insel zu bewegen, ohne Meer ringsherum. Wenn ich durch dunkle, stillgelegte Bahnhöfe fuhr, auf denen geisterhaft hinter Säulen Wachposten standen und sich ungesehen fühlten, wusste ich wieder, wo ich war. Dort fuhr ich selten, nur, wenn ich zum Onkel wollte.
Meine Wege waren andere. Pannierstraße entlang, bis Hermannplatz, Karl-Marx-Straße in
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