Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
aus dem Gefängnis befreien, in dem sie nur saß, weil sie bei Rot über eine Ampel gelaufen war. So wurde mir der Verkehrsunterricht vermittelt. Wir malten im Kindergarten täglich rote Nelken auf Postkarten und verschickten sie. Als Angela Davis auf freien Fuß kam, weil wir die roten Nelken verschickt hatten, kannte ich die Macht dieser Blume. Ich wusste, was ich als nächstes zu tun hatte, und verkündete zu Hause: Ich hätte Angela Davis freigekämpft, jetzt wolle ich dem russischen Schriftsteller Alexander Solschenizyn zu Gerechtigkeit verhelfen. Aus dem Kindergarten kannte ich den Namen nicht.
In Blankenese holte die große Schwester die kleine vom Kindergarten ab. Die große bastelte der kleinen ein Puppentheater. Die große las der kleinen vor. Die kleine störte die große bei den Hausaufgaben. Die kleine stibitzte der großen ein Spielzeug und zerbrach es. Die kleine ließ die große nie in Ruhe. Der großen machte es nichts aus. Wir gingen ins Kino, wir spielten im Garten, wir machten Ausflüge mit der Mutter. Wir waren eine Familie, wenn auch ohne den Vater. Aber das konnte kein Dauerzustand sein, das würde sich ändern. Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken. Nicht darüber, wie es der Mutter ging. Nicht darüber, dass sie oft nach West-Berlin fuhr, an vielen Wochenenden. Dann blieben wir bei Verwandten in der Stadt. Nicht darüber, dass wieder etwas in Bewegung kam. Dass es damit zusammenhing, dass der Vater nicht nach Hamburg zurück wollte. Dass es uns alle betraf. Ich wollte es nicht wissen. Ich wollte keine Umbrüche mehr. Ich wollte in der Schule bleiben, ich wollte in der Wohnung bleiben, ich wollte wieder Klarinette spielen. Ich wollte, dass wir zu uns kamen, ankamen. Dann würde auch der Kontakt zum Bruder häufiger. Dann könnten wir wieder über alles reden, so wie früher. Auch über das Schweigen des Vaters.
Ich weiß gar nicht mehr, ob er noch einmal nach Hamburg kam. Auch die Mutter erinnert sich nicht. Der Vater weiß es auch nicht genau. Aber vielleicht ist es nicht wichtig. Wichtig ist, dass der Vater in West-Berlin sein wollte, um die Nähe der Leute zu spüren, an denen er hing. Der Mutter ging es nicht anders. Wenn man ab und zu mal in West-Berlin war, hatte man das Gefühl, mit den anderen auf der anderen Seite der Mauer in einer Stadt zu sein.
Wichtig ist, dass wir wieder keine Wahl hatten. Die Schwester nicht, ich nicht. Wichtig ist, dass es bedeutete, erneut herausgerissen zu werden aus einer Umgebung, an die wir Kinder uns gerade gewöhnten. An dieses Norddeutsche, das so anders war als Berlin, das rollende »R«, das wir von Großmama im Ohr hatten, das Spröde, die Unnahbarkeit. Die Alster, die Spaziergänge an der Elbe, nicht weit von unserer Wohnung in Blankenese. Der graue Himmel über der Stadt, die eigentlich jetzt, da wir uns nicht ganz an sie gewöhnen durften, doch irgendwie schön war.
Damals tat die Mutter, was der Vater wollte, damit er wieder genas. Sie wich aus, wenn andere fragten, wie es ihm ginge. Sie wiegelte ab, wenn jemand behauptete, es ginge ihm schlecht. Sie stellte sich vor ihn. Es war eine Zerreißprobe, die sie nicht bestehen konnte. Zu viele zerrten, auf der einen wie auf der anderen Seite. Es gab auch welche, denen es gerade recht kam, dass es dem Vater in der Bundesrepublik nicht so ging, wie es einem in der Bundesrepublik zu gehen hatte, im goldenen Westen.
Dann waren da noch die Angehörigen, die meinten, dem Sohn, dem Bruder, helfen zu wollen. Und der Onkel wusste das zu nutzen. Er traf sich mit seinem Führungsoffizier am 16. Januar 1979 von 9.00 bis 14.00 Uhr. Er nahm sich Zeit.
Ich lese: »Die Schwester von H.-J. Schädlich, Frau Dr. med. Hannelore Dege, beabsichtigt einen Antrag für eine Reise zu ihrem ›schwerkranken Bruder‹ nach Hamburg zu stellen (Reise in dringenden Familienangehörigen [kein Druckfehler! Anm. d. Aut. ]).« Er behauptete, sie verträte die Auffassung, dass für den Vater nur ein Ausweg bestünde, wenn er in die DDR zurückkehre. »Mit dem IM wurde während des Treffs ausführlich über seine weiteren Aktivitäten in Bezug auf H.-J. Schädlich gesprochen. Ihm wurde empfohlen darauf Einfluß zu nehmen, daß Dr. med. Dege vorerst keinen Antrag für eine Reise in die BRD stellen, sondern der IM soll gemeinsam mit ihr versuchen, H.-J. Schädlich für eine Zusammenkunft im März/April 1979 in Budapest zu gewinnen.«
6
Im Oktober 1979 zogen wir nach West-Berlin. Am 1. November 1979 fing die Mutter an,
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