Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Möhren, Kräuter. Ein Bauer, der aus Ostpreußen hatte fliehen müssen und das Bauersein nicht lassen konnte, bestellte die Beete. Kartoffeln kaufte sie im Laden. Äpfel, Beeren gab es auch. Ein wilder Garten, der Idylle hätte sein können. Es gab eine Veranda, in der die Großmutter die Dinge unterstellte, die in der Wohnung keinen Platz hatten. In den Blumenkübeln blühten im Sommer bunte Blumen. Im Sommer schlief die Großmutter auf der Veranda, nicht in der kleinen Wohnung unterm Dach. Zwei Zimmer, ein Bad mit Kochecke. Im Bad ein Boiler für Warmwasser. Das gab es nur selten. In dem einen Zimmer zwei Betten, Tisch in der Mitte und Stühle. Im anderen Zimmer der Vorratsraum und der Kleiderschrank. Die Toilette im Parterre links. Wohnen wie im 19. Jahrhundert.
Die Großmutter hatte es auch anders gekannt. Ihr Vater, Paul Reichenbach, betrieb einen Wollhandel in Oberheinsdorf im Vogtland. Seine Frau, Elise, gebar ihm elf Kinder. Paul Reichenbach war strebsam, fleißig, herrschsüchtig. Sanft war Elise, sie sang und spielte zur Laute. Von ihr hatte Fritz, das sechste Kind, die Liebe zur Musik. Fritz, der Klavierspieler werden und nicht im Wollhandel des Vaters arbeiten wollte, der sich das Klavierspiel allein beigebracht hatte, in der guten Stube, die selten betreten wurde, in der es Sessel gab und einen Tisch, ein Sofa und ein Vertiko, in der die Laute stand und das Klavier. Paul war der Sohn nicht geheuer, Paul fühlte sich provoziert. Fritz war zu schwach für den Vater. Fritz zog sich in sich zurück, lief fort, bekam es mit der Angst. Und weil Fritz es mit der Angst bekam, brachte Paul ihn 1930 in eine Klinik. Fenster vergittert, kein Ton drang nach außen. Zehn Jahre lang, bis zum 30. Juli 1940. Fritz wurde mit vielen anderen nach Zschadraß transportiert. Sammelstelle bei Leipzig für viele andere aus ganz Sachsen. Einen Tag später wurde Fritz mit vielen anderen vergast, im Keller von Schloss Sonnenstein bei Pirna.
Die Großmutter hatte 1931 einen Kaufmann geheiratet, Heinrich Schädlich, der ihr vier Kinder gab, drei Jungen und ein Mädchen. Zuerst wohnte die Familie in Oberheinsdorf in einem zweistöckigen Haus. Später zog sie in eine Villa in Reichenbach. Hier war die Großmutter glücklich. Wir waren dort mit dem Vater, wir hatten ihm gesagt, zeig uns etwas aus deiner Kindheit. Die Villa mit Giebeltürmen, weitläufigem Balkon und Terrasse und Garten mit Brunnen steht hochherrschaftlich verlassen da. Schon damals gab es in allen Zimmern Zentralheizung. Der Garten ist ein Park, der schon lange keine Besucher mehr gesehen hat. Der Vater erzählt von Bediensteten, dem Heizer und Gärtner, der im Souterrain wohnte, vom Kindermädchen Ruth und dem Mädchen Hanna, das im Haus ihr Pflichtjahr absolvierte und für die Wäsche zuständig war und was sonst anfiel. Erzählt von sowjetischen Zwangsarbeiterinnen, die gleich neben der Villa in einem Haus untergebracht waren. Von ihrem Gesang, wenn sie nach vollbrachtem Tagwerk zurückmarschierten, und von den Butterbrotpaketen, die die Brüder ihnen auf Geheiß ihrer Mutter über die Mauer warfen, wenn sie Hofgang hatten.
Der Vater erzählt vom Vater, der ein sanftmütiger und gutherziger Mensch war, der der nationalsozialistischen Propaganda erlag und noch vor 1933 in die NSDAP eintrat, der vor der Ehe eine Drogerie führte und später ein Wollgeschäft eröffnete. Der Ortsgruppenleiter der NSDAP im Dorf Oberheinsdorf war und der wegen seiner schwarzgelockten Haare, die nicht zu seiner Überzeugung passten und die er mit Pomade glattkämmte, seinen Stammbaum erforschte und am Ende wusste: Alles fing an mit Samuel Moev. Nach der Schlacht von Stalingrad sagte er zu seiner Frau, er sei einem Verbrecher gefolgt, das könne er nie wiedergutmachen. Er sagte, er fürchte für seine Familie, wenn die Deutschen den Krieg verlören. Der Vater meines Vaters starb im selben Jahr, zu früh und zu plötzlich.
Die Villa musste die Großmutter noch vor Ende des Krieges an das Rote Kreuz verkaufen, aus Geldnot. Erst zog sie mit den Kindern in die erste Etage, dort war immer noch Raum genug. Aber das blieb nicht lange so. Dann mussten sie in eine Dreizimmerwohnung ziehen, die Straße hinunter, mit einem neuen Mann, der schlug. Als der Mann eine Stelle als Ingenieur in Fürstenwalde bekam, zog die Großmutter mit der Tochter mit. Der jüngste Sohn, unser Vater, kam ein Jahr später nach, nachdem er die achte Klasse der Grundschule beendet hatte. Als die Ehe wenige Jahre
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