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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schädlich
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später in die Brüche ging, wurden die jüngeren Kinder aufs Internat geschickt. Der Onkel war schon in Berlin und wurde Lehrer.
    Und Großmama? Sie stammte von einem Gut in Mecklenburg-Vorpommern, in Breesen. Es gab Bedienstete. Ein Mädchen war nur dazu da, täglich die Schuhe der Familie zu putzen. Es gab Kindermädchen, Gärtner. Wäre Großmama in eine andere Zeit hineingeboren, wäre sie Geigenlehrerin geworden.
    1925, mit vierundzwanzig, als sogenanntes spätes Mädchen, heiratete sie Großpapa und bekam fünf Kinder, drei Jungen und zwei Mädchen. Das ältere starb mit drei Jahren an Krebs. Der Älteste musste in den Krieg, mit siebzehn Jahren, kurz vor Kriegsende. Nach der Schlacht um den Kessel von Schneidemühl, heute Polen, galt er als vermisst.
    Großpapa, SPD-Mann durch und durch, trat nicht 1933 in die NSDAP ein. Das war das Aus als Landrat von Oldenburg/Holstein. Erst 1936 fand er wieder eine Anstellung, bei der Allianz. Er lief über Land und verkaufte Versicherungen. Er stieg bis zu einem Direktor auf, und die Familie zog nach Stettin. Da war schon Krieg. Dass sich der »Schweinehund« so lange halten würde, hatte Großpapa nicht gedacht. Widerstandskämpfer war er nicht, aber er war dagegen, zu Hause wurde BBC gehört, zu Hause wurde offen gesprochen. »Und das alles nur, weil der blöde Führer Geburtstag hatte«, sagte der eine Sohn laut, als er nach dem ersten großen Luftangriff auf die pommersche Landeshauptstadt in der Nacht vom 20. auf den 21. April 1943 am nächsten Morgen an der Hand einer Tante durch die Straßen lief. Die Tante ging nie wieder mit ihm spazieren. Später sind Bomben auch auf das Haus gefallen, in dem die Familie wohnte. Die großbürgerliche Einrichtung, alles weg. Nie habe ich Großmama über den Verlust klagen hören, nur in jedem März, wenn ihre erstgeborenen Kinder Geburtstag hatten, wurde sie etwas wunderlich.
    Nachdem der Deutsche Volkssturm im September 1944 einberufen worden war, meldete sich Großpapa polizeilich ab, da wohnten die Großeltern schon bei der Schwester von Großpapa in Liddow. Dienstlich viel unterwegs, sah er auf den Bahnsteigen SS-Männer mit Schildern, die besagten, wer sich nicht zum Volkssturm meldet werde standrechtlich erschossen. Er hat Glück gehabt, sein Sohn nicht, dem er geraten hatte, zu den Russen überzulaufen, wenn es möglich sei. Das war die Hoffnung. Jahrelang.
    1945 wurde Großpapa von den Russen als Landrat von Rügen eingesetzt, sozusagen von der ersten Stunde an, aufgrund seiner politischen Einstellung. Dort gab es eine große Wohnung in Bergen, im Landratsamt, die Unterschlupf für viele bot, die kein Dach mehr über dem Kopf hatten oder in der Stadt nichts zu essen. Es gab viele schöne Zimmer und einen Wintergarten. Im Sommer wurden die Fenster aufgeschoben, ein Teppich ausgelegt, und das Leben spielte sich im Wintergarten ab. Großmama kochte waschzuberweise Zuckerrübensirup, Großpapa brachte Lebensmittel mit. Das war wichtig, denn Essen war knapp, obwohl er Beziehungen hatte. Er hatte einen Dolmetscher, er fuhr einen DKW, der manchmal vollgepackt war mit frischem Gemüse und Aal. Weil Großpapa auch nach der Sperrstunde unterwegs sein musste, hatte der russische Kommandant ihm einen Zettel geschrieben, in kyrillischen und lateinischen Buchstaben: »Landrat Dr. Arno Hübner darf niemals erschossen werden.« Den Zettel trug er bis zu seinem Tode in seiner Brieftasche bei sich.
    1948 wurde Großpapa Präsident vom Oberverwaltungsgericht in Schwerin, zusätzlich erhielt er eine Professur in Rostock, dann der Ruf nach Jena.
    Das hügelige Thüringen ist Großmama nie lieb geworden, sie sehnte sich nach Weite, wo die Berge nicht den Blick verstellten. Aber sie fand sich ab, sie packte an.
    Großmama kam, wenn es brannte.
    Die Großmutter, »die eine Reihe von Rentnerreisen nutzte, um Schädlich zur Rückkehr zur DDR zu bewegen«, kam, um Öl ins Feuer zu gießen.
    Außerdem schickte der Onkel Freunde von sich zu uns, die herausfinden sollten, wie es dem Vater ginge, wie uns. Worüber wir redeten und was wir dachten.
    Wir empfingen sie ohne Arg, es waren die Freunde des Onkels, der aus der Partei gestrichen worden war, unseretwegen, der nicht mehr ins westliche Ausland reisen durfte, unseretwegen, der Schwierigkeiten in der Akademie hatte, alles unseretwegen, weil er nicht bereit gewesen war, sich vom Bruder zu distanzieren. So hatte er es gesagt, schon vor unserer Ausreise, kurz nachdem das Buch des Vaters erschienen

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