Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Familie, verkehrte mit Künstlern und in Kreisen der wissenschaftlichen Intelligenz und fühlte sich als ›kleiner Lehrer‹ etwas zurückgestellt. Beim Gen. Sch. zeigen sich Tendenzen zu extravagantem Verhalten, was sich in seiner saloppen Kleidung und Haltung ausdrückte. Dies wurde als seine ›besondere Note‹ angesehen, was sich nicht unbedingt negativ auf seine Persönlichkeit ausgewirkt habe. […] Insgesamt wurde Sch. als ein sehr intelligenter und fähiger Genosse eingeschätzt, der von sich überzeugt ist und einen ehrlichen und offenen Charakter besitzt.«
Wäre er doch »ehrlich« und »offen« geblieben, denke ich.
Dass der Onkel als OV »Zersetzer« vom MfS geführt wurde, bevor er IM »Schäfer« wurde, kann nicht als Entlastung gelten. »Zersetzung« nannte das Ministerium für Staatssicherheit die Form der »geräuschlosen« Ausschaltung derjenigen, die sich gegen das SED-Regime engagierten. Man könnte sagen, was die einen von sich gaben, war für die anderen das »gefundene Fressen«. Der Onkel servierte es ihnen, freiwillig. Sogar schon, als er noch von der HA XX als »operativer Vorgang« geführt wurde. Ab 1975 dann als IM »Schäfer« ohne Unterbrechung bis 1989. Er hätte anders gekonnt, aber er tat es nicht. Das hatten die schon erkannt, als sie noch Material gegen ihn sammelten, mit dem sie ihn hätten zwingen können, wenn sie gewollt hätten. Aber: Dem Onkel konnten »keine strafbaren Handlungen gemäß § 106 StGB nachgewiesen werden«. Sie brauchten auch nicht zu ihm zu kommen, er kam zu ihnen. Ich lese: »Am 26.3.1974 gegen 10.00 Uhr erschien der DDR-Bürger Dr. Schädlich, Karlheinz
geb. am: 24.9.31 in Schöneck
wh.: 1055 Berlin,
Braunsberger Str. 54
Beruf: Historiker
tätig: Akademie der Wissenschaften der DDR, Institut für Geschichte
T. 535515
bei der Wache der Verwaltung, um eine Aussage zu machen.«
Er informierte, dass seine Freundin aus dem Westen daran beteiligt gewesen sei, einen gemeinsamen Bekannten über Ungarn außer Landes zu schleusen. Der Bekannte sei mit der Bahn nach Budapest gereist, und von dort hätten sie ihn mit einem Pkw, in dem sich er, sie und noch ein DDR-Bürger befunden hätten, in einem Personenversteck von Ungarn nach Jugoslawien geschleust. Dann wäre es weiter über Österreich nach München gegangen. Die Freundin hätte es dem Onkel bei einer Verabschiedung am Bahnhof Friedrichstraße gesagt, sie besuchte ihn oft. Sie hätte ihm auch gesagt, dass sie wahrscheinlich erst einmal nicht einreisen werde, das sei sicherer. Auch für ihn.
»Die Mitteilung des Dr. Sch. über die durchgeführte Schleusung wurde zur Grundlage genommen, um mit Dr. Sch. einen inoffiziellen Kontakt aufzubauen.«
Die Anzeige des Onkels hatte für ihn einen positiven Nebeneffekt. »Sch. ist froh, dass sie nun nicht mehr zu ihm kommen kann.« Durch die Mitteilung konnte der Onkel »dafür sorgen, daß die […] – da sie durch ihn für die Schleusung verantwortlich gemacht wird – im Fahndungsbuch steht und folglich nicht mehr einreist«. Er hatte sich ihrer entledigt. »Wenn sie die Hände mit drin hat, dann kann sie mit sieben Jahren rechnen … Wenn sie die Pfoten tatsächlich drin hat, dann hat sie allen Grund, nicht zu kommen«, hat er zu jemandem am Telefon gesagt.
Der Bekannte wurde im Juli 1974 bei dem Versuch, seine ehemalige Verlobte in den Westen nachzuholen, verhaftet. »Diese Tatsache ist dem Dr. Sch. zwischenzeitlich bekannt geworden.«
Dass er daran beteiligt war, dass jemand ins Gefängnis kam, war nicht das einzige Mal. Er verriet eine Freundin, die aus einem Ostblockland in den Westen fliehen wollte. »Durch einen offiziellen Hinweis der HA XVIII und durch den IM ›Schäfer‹ der HA XX/2 wurde dieser Verdacht am 30.10.1975 bestätigt.« Einen Tag später wurde die Freundin verhaftet und den »zuständigen Organen der DDR übergeben«.
Aber mehr noch als Verrat und Denunziation waren Geheimdienste des Onkels Steckenpferd, besonders der britische. Er wollte mitmischen. 007 in der DDR, schöne Frauen und das süße Leben! Kim Philby, der hochrangige britische Geheimagent und sowjetische Spion, hatte es ihm besonders angetan.
Eines Tages kam er ganz aufgeregt zu uns, sagte, er habe beim Telefonieren im Ost-Berliner Telefonbuch geblättert, und sein Blick sei erst auf einen Nachnamen gefallen, dann auf den Vornamen Lisa. Ein Signal. Er wusste, dass die erste Frau von Philby »Lisa« hieß. Er habe sie angerufen, sagte er noch aufgeregter.
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