Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
anderes werden können als das, was er wurde? frage ich mich. Wieder der Konjunktiv. Ich halte mich lieber an die Tatsachen. Möchte noch einmal wissen, was war. Vielleicht hilft das. Dämonen wird man nur los, wenn man ihnen entgegentritt. Der Onkel soll unser Dämon nicht mehr sein.
Als ich ihn kennenlernte, will sagen, bewusst wahrnahm, war er schon kein Oberschullehrer mehr, sondern längst wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften und schon lange Jahre Mitglied der SED. Er sah aus wie ein Bonvivant, und er lebte wie einer. Er liebte ein ungezwungenes Leben, er liebte Frauen. Er liebte Großbritannien und Jazz. Ihn faszinierte die Fotografie. In seiner Wohnung besaß er ein kleines Fotolabor. Er umgab sich mit außergewöhnlichen Menschen. Er verkehrte im Hause Robert Havemanns. Ich lese: »Sch. ist bemüht, den Kontakt zu H. zu festigen. Er verbrachte im Zeitraum Sept. 73 /Jan. 74 mindestens 1 Wochenende monatlich im Hause des H. in Grünheide.« Über die Jahre festigte sich der Kontakt, sie waren per du.
Lilo Fuchs hat ihn auch getroffen, als sie dort wohnten, 1976, bevor Jürgen verhaftet, bevor Havemann unter Hausarrest gestellt und Grünheide abgeriegelt wurde. »Der Bruder deines Vaters ist immer wieder mal dort aufgetaucht. Der kam dahin als Interessierter und im Auftrag zu hören, wer dort ein und aus ging. Mit dem Namen Schädlich war er aufgenommen«, erzählt Lilo. Entweder so oder aus Erzählungen anderer sammelte der Onkel Wissen und verriet es. So erfuhr das MfS, dass »der Lyriker Jürgen Fuchs […] mit seiner Familie ständig in einem Bungalow auf dem Grundstück Havemanns wohnt« und »der Lyriker Pannach, der angab, gegenwärtig Aufnahmen im Tonbandstudio von Biermann zu machen«, sich bei Havemanns aufhielt.
Der Onkel pflegte Bekanntschaften mit Schriftstellerinnen wie Christa Wolf und Monika Maron, mit der Bildhauerin Ingeborg Hunzinger. Der Onkel gab sich als Freund des Schriftstellers Klaus Schlesinger und der Liedermacherin Bettina Wegner aus, und er suchte die Freundschaft von deren Schwester, Claudia Wegner, im Auftrag. Er wollte wissen, was sie dachte. Sie kannte viele Leute. Er wollte wissen, was sie dachten. Um ganz sicherzugehen, nahm er sich ihr Tagebuch vor, las es von vorne bis hinten, überzeugte sich von ihrer »politisch feindlichen Einstellung«, las Belastendes, und bald wusste es auch das MfS.
Ich habe Claudia Wegner getroffen. Sie sagte, der Onkel und die Schriftstellerin Maja-Michaela Wiens alias IM »Marion« seien die Schlimmsten in ihren Akten. Beide wurden vom MfS unter der Kategorie IMB geführt – als Inoffizielle Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindung beziehungsweise zur unmittelbaren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen.
Wolf Biermann besuchte er in seiner Wohnung in der Chausseestraße, Manfred Krug hatte er schon in den Fünfzigern kennengelernt. Sie wohnten ein Jahr lang im selben Haus, 1957, in der Prenzlauer Allee.
Ich habe Manfred Krug angerufen und gefragt, ob er mir mehr erzählen könne. Er sagte, sie seien sich eines Tages im Hausflur begegnet. Der Onkel habe in der vierten Etage gewohnt, in einer eigenen kleinen Wohnung. Er selber im Erdgeschoss, in einem möblierten Zimmer. Eines Tages habe der Onkel ihn angesprochen und gefragt, was er mache. Er sei Schauspieler, hätte er gesagt, denn er hatte gerade die Schauspielschule absolviert. Der Onkel sei schon Lehrer gewesen. Sie seien ins Gespräch gekommen. Über alles mögliche und besonders über Frauen. Der Onkel habe wunderbar von Frauen schwärmen können, denn er sei Frauen sehr zugetan gewesen. Einmal wäre er mit in die Schule gegangen, an der der Onkel unterrichtete. Er sei sehr gut als Lehrer gewesen, er habe einen unauffälligen, eleganten Stil gehabt, und es habe Spaß gemacht, ihm zuzuhören. »Er war sehr begabt, dein Onkel«, sagt Manfred Krug. Ich lese in einem Ermittlungsbericht von 1977 über seine Zeit als Lehrer: »Während seiner Tätigkeit von 1951–1966 als Lehrer in der 5. Mittelschule, der 24. Oberschule und der Käthe-Kollwitz-Oberschule in Berlin Prenzlauerberg war Gen. Sch. als Lehrer für Geschichte und Staatsbürgerkunde tätig. Es wurde eingeschätzt, daß Sch. ein ›recht brauchbarer‹ Lehrer war, der seinen Unterricht parteilich und ›modern‹ gestaltete und um eine wissenschaftliche Ausdruckweise bemüht war. […] Wie eingeschätzt wurde, kam er aus einer intellektuellen
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