Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
unter der Überschrift »Wir trauern um unsere verstorbenen Mitglieder«. Unter dem letzten Namen: »Ehre ihrem Andenken.«
Nach der ersten Kontaktaufnahme des Onkels durch die Anzeige wegen der Republikflucht ging Zeit ins Land. Noch fast ein Jahr ließen sie den Onkel beobachten, ließen ihn abhören, sammelten sie Material. Am 13. Februar 1975 beschloss Salatzki, wie ich in den Akten lese, den Vorgang »Zersetzer« mit der Werbung abzuschließen. Am 29. März rief er den Onkel an:
Salatzki: Hallo, Sagert am Apparat.
Der Onkel: Ja, ich erinnere mich. Ich habe gestern und vorgestern versucht, Sie anzurufen. Ich wollte um ein Gespräch bitten, ich habe wichtige Informationen.
Salatzki: Ich bin gegen 11.30 Uhr bei Ihnen. Ist Ihnen das recht?
Die dritte Begegnung also, gleich unter vier Augen.
In dem Treffbericht steht: »Gegen 11.30 Uhr betrat Unterzeichneter die Wohnung des Dr. Schädlich und stellte fest, dass neben Dr. Schädlich ein ca. 16 – 17jähriges Mädchen anwesend war.« Das Mädchen schickte der Onkel in die Küche. Die Männer sprachen:
Der Onkel: Was ist Ihr Anliegen?
Salatzki: Im Zusammenhang mit der Ausschleusung und späteren Inhaftierung Ihres ehemaligen Bekannten ist eine Reihe von Fragen aufgetreten, über die ich mit Ihnen sprechen will. Es geht um die Festlegung eines Termins.
Der Onkel: Gut, ich bin zu einem Gespräch über diese Fragen bereit. Außerdem habe ich Kenntnis von einer weiteren Schleusung. Eine gute Freundin hat mir davon erzählt. Mehr weiß ich zur Zeit nicht, ich halte es aber für meine Pflicht, umgehend diese Fakten zu melden.
Salatzki: Diese Angaben werden überprüft. Wir können uns dann ausführlich am 4.4.75 um 9.00 Uhr darüber unterhalten.
Der Onkel: Gut, ich bin mit diesem Termin einverstanden.
Freundschaften muss man pflegen. Zwei Tage vor dem Termin klingelte bei Salatzki das Telefon. Vielleicht blickte er auf seine Uhr. Es war kurz vor 10 Uhr morgens. Vielleicht setzte er eine Tasse Kaffee ab.
Der Onkel: Schädlich am Apparat, Karlheinz. Ich dachte, ich sollte Ihnen mitteilen, dass die gute Freundin, die mir von der weiteren Schleusung erzählt hat, gestern bei mir zu Besuch war. Sie sagte, der Freund sei offenbar nicht in West-Berlin angekommen, denn die vereinbarte Mitteilung sei noch nicht eingetroffen.
Salatzki: Interessant. Ich schlage vor, wir unterhalten uns übermorgen ausführlich über diesen Besuch der Freundin.
Am 4. April begab sich der Onkel zu dem Treffen. Er war in ein Appartement Unter den Linden 36 bestellt worden, in das Haus, in dem der Zentralrat der FDJ seinen Sitz hatte. Ich sehe vor mir, wie der Onkel vom S-Bahnhof Friedrichstraße in Richtung Unter den Linden schlendert, nach rechts abbiegt. Je näher er der Adresse kommt, desto lässiger. Vor dem Haus bleibt er kurz stehen, klopft die Pfeife aus. Dann tritt er ein.
Dieses Gespräch dauerte länger. Es ging um mehr. Auch über dieses Treffen gibt es einen Bericht: Salatzki war dort und Major Buhl. Man plauderte über die Schleusung nach West-Berlin. Man spekulierte, dass es sich um ein und dieselbe Schleuserorganisation handeln müsse, die auch schon dem Bekannten außer Landes verholfen hatte, der dann verhaftet werden konnte. Man war sich einig. Um die »Organisation aufzuklären«, werde die Hilfe des Onkels benötigt. Er wollte helfen. Und dann: »Ohne, daß er danach gefragt wurde, gab Sch. an, daß er in der Vergangenheit Verbindungen zu s.g. DDR-Opposition Havemann und Biermann unterhalten hat. Dr. Schädlich bezeichnete Havemann als einen senilen Individualisten, der seine oppositionelle Haltung als einträgliche Einnahmequelle nutzt (Veröffentlichungen im NSW).«
Ich höre ihr höhnisches Gelächter. Ich sehe, wie der Onkel dasitzt, die Pfeife haltend, lächelnd, ein Bein über das andere geschlagen. Keine Angst, nichts zu verlieren. Vielleicht in einem Sessel, an einem runden Tisch. Bei Antworten manchmal zurückhaltend, um herauszufinden, inwieweit die beiden Männer informiert sind.
Die beiden anderen ihm gegenüber, nicht ganz so locker, wachsam und kollegial. Trotzdem entspannt. Sie wussten, was sie taten. Der Onkel wusste es auch.
Man verabschiedete sich, vielleicht per Handschlag. Wahrscheinlich verließ der Onkel zuerst die Wohnung, trat auf die Straße hinaus, wandte sich nach links, ging zur Espresso-Bar, war ja nicht weit. Der Stammgast bestellte Schnaps und Kaffee im verrauchten Bistro.
Vielleicht blieben Salatzki und Buhl noch einen
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