Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
also durchaus auf einen teilweise fahrlässigen Umgang mit Röntgenstrahlen bei der Behandlung politischer Häftlinge geschlossen werden.«
Wenn damals in West-Berlin Gerulf und seine Frau nicht kommen konnten, kamen wir zu Freunden. Vielleicht zu Lilo und Jürgen Fuchs. Vielleicht waren auch manchmal Ferien, oder es war ein Wochenende, wenn die Mutter wegfuhr. Dann kamen wir nach Hamburg. Der Vater blieb allein zu Haus. So muss es gewesen sein, als die Mutter im Sommer 1980 verreisen musste. Die Großmutter rief den Onkel an und sagte, wie ich lese, dass es ihr lieb wäre, man verschöbe das Vorhaben auf August, dann wäre die Mutter nicht da und wir auch nicht.
Die Mutter hatte eine Dienstreise. »Aksjonow wurde ausgebürgert, er fuhr zunächst nach Paris. Ich sollte hin, um ihn dort zu empfangen, denn er war unser Autor, wir machten das Buch Der rosa Eisberg. Es war eine große Sache«, erzählt die Mutter.
Zu Hause muss das Telefon ununterbrochen geklingelt haben.
Der Onkel: Bevor du dich vor die U-Bahn wirfst, kauf dir einen U-Bahn-Fahrschein.
Der Onkel: Die Möglichkeit zurückzukommen besteht noch.
Der Onkel: Wenn jemand weiß, was er will, dann scheißt er auf den Tisch.
Als die Mutter aus Paris zurückkam, war der Vater nicht mehr da. »Das Leben war schwer, aber es wurde nie darüber geredet, dass er weggeht oder wieder ins Krankenhaus will«, erzählt die Mutter. Sie fand einen Zettel mit einer Adresse, der Vater wollte dort erst einmal bleiben. Jetzt fuhr die Großmutter dorthin, der Onkel blieb informiert, er berichtete dem MfS, er bemühte sich weiter.
In jener Zeit wurde der Verdacht laut, dass der Vater gegen seinen Willen per Krankentransport in die DDR zurückgeführt werden sollte.
»Jürgen hat davon erfahren, rief mich an und sagte, er habe gehört, diese Nacht solle etwas passieren«, erzählt die Mutter. »Jürgen sagte zu mir, du musst schaffen, dass er heute abend bei dir ist. Ich fragte, wie soll ich das schaffen? Dann fiel mir Anna ein. Ich rief deinen Vater an. Er kam an den Apparat. Ich sagte, Anna sei schwer krank, sie hätte wieder eine Nierengeschichte und ruft immerzu nach ihrem Vater. Ich sagte, ich schicke ein Taxi, ich bringe dich auch wieder hin. Abholen konnte ich ihn nicht, denn ich musste so tun, als ob ich nicht weg kann. Dann habe ich Jürgen angerufen. Er kam auch in die Pannierstraße. Anna war quietschvergnügt. Wir sagten, tja, wir können uns das nicht erklären. Doch dass es ihr besserging, war nicht ungewöhnlich bei solchen Attacken. Hauptsache war, dein Vater war da. Er musste bis halb eins bleiben, das war die Hauptschwierigkeit. Jürgen verwickelte ihn in politische Gespräche. Gegen halb eins gab Jürgen mir zu verstehen, jetzt ist die Gefahr vorbei. Dann gingen sie zusammen weg.«
Am 3. Oktober 1980 wurde dem Onkel von Major Salatzki mitgeteilt, »daß unsererseits keinerlei Aktivitäten in Bezug auf H.-J. Schädlich mehr eingeleitet werden«.
Ende Oktober begab sich der Vater wieder ins Krankenhaus.
Lilo sagt: »Eine Katastrophe, wenn es dem Onkel tatsächlich gelungen wäre, euren Vater nach Ost-Berlin zu locken. Sie hätten ihn vorgeführt, vorgegeben, es sei aus gesundheitlichen Gründen geschehen, weil er in der Bundesrepublik nicht mehr bleiben wollte, weil er dort krank wird. Das hätte ihnen gefallen, wenn so einer wie Schädlich als Vorzeigeobjekt dahin verfrachtet worden wäre.«
9
Wie schon in Hamburg, war der Vater fort, aber nicht die Schwere. Wie schon in Hamburg nahmen sie die Mutter ins Visier, nicht nur wegen ihrer Arbeit. Sie sollte verunsichert werden. Zu Hause, im Verlag erhielt sie Anrufe. Ich lese: »Beispiel: Seien Sie heute Nachmittag da und da bei Karstadt. Wir haben wichtige Infos für Sie.« Die Mutter ging nicht. Natürlich nicht. Sie beriet sich mit ihrem Verleger Hans F. Erb. Im Haupthaus des Verlages wurde ihr für Manuskripte von DDR-Autoren ein Tresor zur Verfügung gestellt.
Die anonymen Anrufe nahmen zu, Männer in Trenchcoats lungerten im Treppenhaus herum. Und plötzlich war die Angst wieder da, die Erinnerung: an die Schritte in der Hamburger Wohnung, an die vertauschten Manuskripte, an den Schlüssel auf dem Tisch und an die Äußerung von Günter Gaus, das sei die Stasi, die hinterlasse Spuren.
Die Anrufe behielt sie für sich. Auch ich behielt für mich, dass manchmal, wenn das Telefon klingelte und ich abnahm, am anderen Ende keine Stimme zu hören war, nur Atmen. Ich blieb so lange dran, bis die andere
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