Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
»große Gemeinschaft des werktätigen Volkes«. Ich musste nicht mehr aufgenommen werden in diese Gemeinschaft. Ich war weg und gelobte etwas anderes: als Tochter meiner Eltern das Abitur zu schaffen, denn das hätte ich, wären wir in der DDR geblieben, als Kind parteiloser, oppositioneller Eltern, die zudem Studierte und keine Arbeiter und Bauern waren, nicht machen dürfen. Das hatten sie der Mutter schon vor 1977 gesagt. Mein Leben in die Hand zu nehmen, nicht die Lebensumstände, die den Weg wiesen, bestimmen zu lassen, sondern selber den Weg zu suchen, zu wählen, zu gehen. Ich wollte die Lebensumstände selber bestimmen. Damit fing es an, langsam und vorsichtig, aber es fing an. Ich ging anders in die Schule. Selbstbewusster. Vorbei mit dem unsinnigen Gefühl, dass wir, weil wir aus der DDR kamen, nicht weltgewandt auftreten könnten. Es kam ein Stolz hinzu. Ich war in einer anderen Welt gewesen und wandte mich jetzt einer neuen zu. Das war mehr, als die meisten von sich behaupten konnten. Vorbei mit der Furcht, nicht so belesen zu sein. Ich hatte DDR-Autoren gelesen, russische Autoren, nicht Amerikaner oder Engländer oder. Las ich die eben jetzt. Hatte dann mehr gelesen als die meisten anderen.
Ich brach auf, in Gedanken und zu Fuß. Mein Blick wurde forscher und neugieriger. Ich sah auf Heckscheiben Aufkleber mit einer Sonnenblume, und mir gefiel, was sich dahinter verbarg. Ich sah eine Tageszeitung, die es vorher nicht gegeben hatte, und las sie von da an regelmäßig. Ich stromerte durch Kreuzberg, fuhr nach Schöneberg, machte mir die Stadt zu eigen. Wenn ich schon keine Wahl gehabt hatte, als es hierherging, entschloss ich mich jetzt, dass ich dazugehören wollte. Ich wollte wissen, wo ich war, wenn ich schon einmal da war. Deshalb suchte ich mir die Leute in der Schule genau aus. Ein Mädchen aus einer höheren Klasse, meine Banknachbarin aus meiner Klasse, mit denen ich reden konnte, die Freundinnen wurden, die mich einweihten. Ich lernte hören und sehen, aber von da an nur bis zur Mauer. Blickeingrenzung, um den Überblick zu behalten. Um den Blick fürs Hier zu festigen, nicht mehr den ins Zurück. Die Straßen führte ich in Gedanken nicht mehr weiter. Ich sah den Fernsehturm nicht. Ich sah Filme im Kino, ich sah Theater im Grips.
Ich sah Großmama, zu meinem vierzehnten Geburtstag. Der Vater war noch in Bayern. Es war der erste Geburtstag, an dem der Vater nicht dabei war. Wir feierten kein großes Fest. Beim ersten Geburtstag im Westen, als ich dreizehn wurde, hatte es auch kein Fest gegeben. Nach einem Jahr in neuer Umgebung und der Unruhe war für Freundschaften kein Platz gewesen. Kein Kindergeburtstag, kein Kartoffelsalat, keine Würstchen, keine halben Eier, die die Jungs durch das Zimmer warfen, kein Topfschlagen, keine Pfänderspiele. Dafür ging es zum Hamburger Dom. Die Schwester und ich durften so viel Zuckerwatte essen, wie wir wollten, so viel Karussell fahren, wie wir wollten, und Lose ziehen, soviel wir wollten. Plötzlich die Stimme des Budenbesitzers, den Hauptgewinn hat die Losnummer soundso. Die Nummer soundso hielt ich in meiner Hand. Unter Trommelwirbel musste ich zu dem Budenbesitzer gehen, ein paar Stufen hinauf, und er fragte nach meinem Namen. Er streichelte mir über den Kopf und gab mir ein Kofferradio, das in einer roten Plastiktasche steckte, an der ein rotes Band befestigt war, woran man sich das Radio um den Hals hängen konnte. Er hängte mir das Radio um den Hals, ich machte einen Knicks und sah erst später, dass das Kofferradio »Susi« hieß.
Mein vierzehnter Geburtstag wurde doch eine Weihe in gewisser Weise. Die Mutter hatte an Freunde und Verwandte geschrieben und gebeten, dass Briefe und Päckchen kamen, irgend etwas Besonderes eben. Etwas Besonderes sollte auch der Abend sein. Im Kempinski am Kurfürstendamm – etwas anderes kannten beide nicht – hatte die Mutter einen Tisch bestellt. Silberbesteck, weiße Tischdecken, Kellner in Livree. Vorspeise, Hauptspeise, Nachspeise! Vier Damen in einem Grandhotel.
Und dann gleich Weihnachten. Das dritte im Westen. Der Vater war zurück, aber über den Berg war er auch im Bayrischen nicht gekommen. Früher waren wir zu Weihnachten zu Großmama nach Jena gefahren. Immer mit dem Auto. Familienfeste unterm Tannenbaum. Sie sind mir unvergesslich. Geheimnisvoller war es nie, nie vorweihnachtlicher. Jetzt brachte sie Weihnachten in die Pannierstraße. Mit ihrer ganzen Art und selbstgebackenen Keksen in einer
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