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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schädlich
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gesehen und war an ihnen vorbeigegangen. Als die Mutter arbeitslos wurde, sah ich die Männer anders an. Verunsicherung ist gar kein Ausdruck. Panik kam später, je länger die Arbeitslosigkeit dauerte. Kaum Geld für das Nötigste. Und ich träumte von stone-washed Jeans. Im Schaufenster in einem Laden auf der Sonnenallee hatte ich eine gesehen, türkisblau. Ich hatte die Mode entdeckt und die Mutter Behördendeutsch und amtliche Formalitäten. Ich redete mit keinem meiner Freunde darüber, in welcher Lage wir waren. Es war mir unangenehm, denn im Westen schwieg man über solche Dinge. Ich täuschte Normalität vor, die Mutter schrieb eine Stellenbewerbung nach der anderen, bekam eine Absage nach der anderen, wir stritten uns übers Taschengeld und alles, worüber es zu streiten gab, weil ich genug hatte von Problemen, weil ich mitten in der Pubertät war, weil die Mutter nun immer zu Hause war und ich es nicht sein wollte. Mich zog es in eine andere Welt, in die jenseits des Landwehrkanals, wo sich Dinge bewegten, zumindest meiner Meinung nach. Ich drückte mich auf der Oranienstraße herum, so lange, bis ich selber in ein besetztes Haus kam, die O 3. Die O 3 wurde mein zweites Zuhause, wenn ich manchmal statt in die Schule dorthin fuhr. Um 8 Uhr war ich da, ging in den vierten Stock, kletterte über Matratzenlager, setzte mich an irgendein Fenster und sah auf die Welt da draußen. Gegen 14 Uhr war ich wieder zu Hause.
    Ich kam mir ungeheuer wichtig vor, weil ich mit von der Partie war, weil sie mich reingelassen hatten, mich, die ich noch nicht einmal sechzehn war, zwischen all den Männern und Frauen, die sich anders anzogen, die Haare anders trugen, von »der Bewegung« sprachen und »Abrüstung«. All das interessierte mich auch. Ich war bewegt und wollte mitbewegen, lief mit auf Demonstrationen. Anlässe gab es genug. Im September, vor und nach dem Tod von Klaus-Jürgen Rattay. Vor dem Tod war es eine Demo gegen die Räumung von acht besetzten Häusern gewesen. Es kam zu Prügeleien zwischen der Polizei und den Demonstranten, Rattay wurde auf die Fahrbahn gedrängt, auf der Potsdamer Straße von einem Bus erfasst und zu Tode geschleift. Nach dem Tod ein Schweigemarsch. Kerzen an der Unfallstelle.
    Oder gegen den amerikanischen Außenminister Haig im Oktober, der gesagt hatte, der Schutz der Freiheit sei wichtiger als die Erhaltung des Friedens, und der die Symbolfigur der Kriegstreiber schlechthin war. Es kam zu Ausschreitungen. Das war Nervenkitzel, aber zum Schluss siegte doch die Vernunft. Ich schlug mich mit Freunden in die Seitenstraßen, nachdem der Knüppel eines Polizisten bedrohlich über meinem Kopf geschwebt hatte.
    Und bei allem bekam ich nicht mit, dass es dem Vater langsam besserging. Er war nach Ungarn geflogen, schon im Juni. Ich lese: »In der Zeit vom 12. – 26.6.81 hielt sich auf Einladung des IM Hans-Joachim Schädlich in Budapest auf.« Und: »Nach Einschätzung des IM und der Schwester von Schädlich hat dieser sich nach kurzer Zeit von seiner Depression erholt.« Zurück zu uns nach Hause kam er nach der Reise nicht. Er zog anderswo ein. Was sowieso klar war, war jetzt endgültig. Die Mutter und der Vater gingen jeder ihrer Wege, ich suchte meinen, und die Schwester kam in die zweite Klasse.
    Mehr weiß ich nicht. Kein weißer Fleck, sondern ein dunkler. Es geht erst wieder los, als die Mutter eine neue Stelle gefunden hatte. Und da sind es Diskussionen, die mir im Gedächtnis geblieben sind. Endlose! Darüber, dass ich nicht dahin ginge, wohin sie ginge. Darüber, dass ich mich nicht erneut verpflanzen ließe. Das Abitur in Berlin machen wollte. Oder gar nicht. Ich lese: »Inoffiziell wurde bekannt, daß die Schädlich, Krista-Maria ab 1.2.1983 von West-Berlin nach Stuttgart übergesiedelt ist und beim Süddeutschen Rundfunk Stuttgart, Hörspielabteilung, eine Arbeit als Redakteurin aufgenommen hat.« Immerhin, wenn ich auf solche Vermerke stoße, kann ich die Mutter anrufen und sagen: »Ich weiß jetzt wieder, wann du nach Stuttgart gezogen bist.« Und meistens kommen wir ins Reden.
    »Ein Bekannter fuhr mich nach Stuttgart, in einem kleinen Transporter, meinen Sekretär nahm ich mit, einen Stuhl, meinen Fernseher, ein paar Kisten und Fotos von euch Kindern. Diese ganze holprige Fahrt auf der Autobahn durch die DDR, vorbei an Eisenberg, dort, wo wir immer zu Großmama abfuhren. Jetzt einen Blick wagen, in die hüglige Landschaft, die mir Heimat war. Alles klapperte, und ich dachte

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