Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Verträge für Beiträge zu einer Anthologie eingegangen, für die die Mutter sogar Schriftsteller wie Grass und Born gewonnen hatte. Die Beiträge sollten auf hohem literarischem Niveau das Lebensgefühl in den beiden Teilen der Stadt nach zwanzig Jahren Mauerbau beschreiben.
Ich lese: »Aus Äußerungen der Schädlich über die Zielstellung der Anthologie ist die Absicht erkennbar, dieser Anthologie einen ›gesamtdeutschen‹ Charakter zu geben, darüber hinaus die literarische Zugehörigkeit West-Berlins zur BRD zu demonstrieren und die von äußeren feindlichen Kräften verstärkt propagierte These vom ›Fortbestehen einer einheitlichen deutschen Kultur- und Literaturnation‹ zu unterstützen. Seitens der Schädlich ist vorgesehen, sowohl Westberliner Schriftsteller (u.a. Ingeborg Drewitz – Mitglied des Präsidiums des PEN-Club der BRD und des ›Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus‹) als auch feindlich gegen die DDR wirkende ehemalige DDR-Bürger (u.a. Jürgen Fuchs, Hans-Joachim Schädlich) zusammen mit oppositionellen Schriftstellern in die Anthologie aufzunehmen (u.a. Fühmann, Plenzdorf, Bartsch, Schlesinger, Jakobs, Kunert, Bettina Wegner, Stade, […] , Rathenow und Schollack). Auch die Beteiligung von Sarah Kirsch, Thomas Brasch und Manfred Krug ist vorgesehen.«
Ziel war, mit diesen zum ersten Mal im Ullstein Verlag erscheinenden Autoren die verlegerische Absicht zu untermauern. Springer forderte den Verlagsleiter und die Mutter auf, die beteiligten Autoren zu bewegen, ihre Unterschrift unter dem Boykott zurückzunehmen, ansonsten könnte die Anthologie nicht erscheinen.
Hans F. Erb und die Mutter wussten, was sie riskierten, als sie der Aufforderung nicht nachkamen, die Schriftsteller zur Zurücknahme ihrer Unterschrift zu veranlassen. Schon im Jahr zuvor hatte IMV »Hans«, mit Klarnamen Hans Marquardt und Leiter des Reclam Verlages, in Erfahrung gebracht: Es sei bei neu eingestellten Mitarbeitern »eine Klausel in dem Arbeitsvertrag, daß sie sofort entlassen werden können, wenn sie den Anforderungen der Konzern- bzw. Verlagsleitung nicht gerecht werden. Damit werde nach Meinung von […] jedes ›Aufmucken‹ gegen die Leitung und ihre Weisung unterdrückt, da der Betreffende dann sofort seine Arbeit verliert und – das seien Erfahrungswerte – nicht so schnell wieder eine neue bekommt.«
Der Kampf um das Erscheinen der Anthologie zog sich hin. Am Ende »mußte die Schädlich im Oktober 1981 den Ullstein-Verlag unter Mitnahme des Anthologie-Projektes verlassen. Sie bemühte sich darum, die Anthologie unter dem Titel ›Die Hälfte der Stadt‹ im Verlag ›Autoren-Edition‹ in Königsstein/BRD zu veröffentlichen, ohne daß sie bisher Erfolg damit hatte.«
Tatsächlich erschien die Anthologie 1982 in der Autoren-Edition des Athenäum Verlages. In den Akten steht, der Schriftsteller Jan Koplowitz, der von 1968 bis 1989 ein Mitarbeiter der Staatssicherheit war, sein Deckname IM »Pollock«, beschaffte das Buch für das MfS. Prof. Dr. Werner Neubert, IMV »Wolfgang Köhler« von 1969 bis 1985, schätzte das Buch im November 1982 operativ ein.
»Als Grundrichtung des Buches kann festgestellt werden:
– Provokatorische Darstellung der sogenannten ›Hälften‹ Berlins als historische und aktuelle › Schicksals-Einheit der Deutschen in Ost und West‹. Damit ist verbunden die Eliminierung der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik;
– Entfachung von Haß speziell gegen die Grenz-Sicherungsorgane (einschließlich Zoll) der DDR;
– Verzerrende Schilderung der allgemeinen Lebens-Atmosphäre in der Hauptstadt der DDR als einer angeblichen Atmosphäre von Bedrückung, Furcht, Sehnsucht nach Berlin (West) […]«
Es wird vorgeschlagen, »die für die jeweilig genannten Autoren zuständigen Diensteinheiten über den Beitrag des Autors in dieser Anthologie sowie die operative Wertung des Beitrages durch beiliegende Einschätzung zu informieren«.
Als ich der Mutter jetzt diese Einschätzung zeigte, erschrak sie im nachhinein. Sie hatte ein Buch publiziert, das sie selbst nicht nur ihrer Arbeit beraubt hatte, sie hatte die beteiligten Schriftsteller aus der DDR in Gefahr gebracht.
Sommer 1981. Die Mutter war arbeitslos. Das war etwas Neues. Das hatte es in der Familie noch nicht gegeben, geschweige denn in der DDR, dem Land der Werktätigen. Arbeitslosigkeit gab es nur im Westen.
Ich hatte die Männer an der Imbissbude gleich unten an der Ecke mit ihrem ewigen Bier
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