Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Seite auflegte. Doch was konnten die schon ausrichten. Ich war weit oben im vierten Stock. Und dann standen sie an der Wohnungstür und klingelten. Sie fragten nach der Mutter. Die war nicht da. Sie gingen. Irgendwann klingelte es wieder. Sie fragten nach der Mutter. Aber die Mutter war nicht da. Dafür Großmama, die mich mit jemandem reden hörte, die an die Tür kam, die mich wegschob und die Männer fragte, was sie wollten. Sie wollten nur mit Frau Schädlich sprechen, sagten die Männer. Großmama sagte, von Bettlern und Hausierern nähmen wir nichts, und schlug die Tür zu. Von da an legten wir immer die Kette vor.
Und dann kam November. Der 19. November 1980. Die Mutter hatte erfahren, dass der Schriftsteller Frank-Wolf Matthies inhaftiert worden war. Sie rief den Onkel an. Aufgeregt. Außer sich, kann ich mir vorstellen. Die Mutter bat den Onkel herauszufinden, ob Lutz Rathenow noch auf freiem Fuß sei. Wenn er wieder zu Hause wäre, würden sie erneut telefonieren. Rathenow war verhaftet worden. Das Vergehen: Das Buch Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet war ohne Genehmigung der DDR-Behörde in der Bundesrepublik erschienen. Der Onkel suchte die Frau von Rathenow auf, lud sie zu sich in die Wohnung ein, damit sie sein Telefon benutzen könne. Sie war dankbar, sie besprach sich mit ihm, wie sie ihrem Mann helfen könnte, ohne zu wissen, wem sie da vertraute. Auch Lutz Rathenow, nach seiner Entlassung aus der Haft.
So war das mit der Stimme des Hirten, des Schäfers.
Nachdem Lutz Rathenow aus der Haft entlassen worden war, reiste die Mutter, die »zu den engen Verbindungen solcher feindlichen Kräfte wie u.a. Fuchs, Pannach und Kunert« gehört, im Februar 1981 nach Budapest. Sie wollte sich dort mit Lutz Rathenow und dessen Frau Bettina treffen.
Auch den Onkel wollte sie sehen, sie freute sich auf ihn.
Ob er sich auch freute? Er hat so getan, das ist sicher. Und er hatte den Auftrag, herauszufinden, mit wem sie sich traf, worüber sie sprach, welche Vereinbarungen sie mit Autoren machte, wie die Situation unter den ehemaligen DDR-Bürgern in West-Berlin war.
Das aber war nicht sein einziger Auftrag. Er kundschaftete die Oppositionellen in Ungarn aus, das MfS gab die Informationen weiter an die ungarische Geheimpolizei. Genauso machte er es in Polen. Wieder lese ich Namen von bekannten Schriftstellern, von Journalisten, von Professoren, von Inhaftierungen. Der Agent im Ausland kassierte Prämien für die Informationen, die er erarbeitete. Wenn die neuen Freunde nach Ost-Berlin kamen, um Kontakte zu knüpfen, stellte er sogar seine Wohnung zur Verfügung. Das hatte er schon 1977 getan.
Ich lese:
»Begründung für Einsatz der operativen Technik
Der IMV ›Schäfer‹ hat für die Zeit vom 25. – 26.1.77 seine Wohnung einem polnischen Bürger für eine Zusammenkunft mit einer BRD-Bürgerin, die bisher unbekannt ist, zur Verfügung gestellt.
Bei dem polnischen Bürger handelt es sich um […], der ein Anhänger des sog. ›Komitees für Arbeiterhilfe‹ ist.
Der konspirative Zugang zur Wohnung ist gewährleistet.
Kuschel
Major«
Und weiter:
»Von allen beteiligten polnischen Gesprächspartnern wurde Freude darüber zum Ausdruck gebracht, durch den IM eine weitere Verbindung in die DDR erhalten zu haben. Der IM wurde eingeladen, möglichst bald wieder nach Warschau zu kommen. […] Vom IM wurde eingeschätzt, daß er zu dem genannten Personenkreis in Warschau vertrauliche Beziehungen herstellen konnte. Es gibt bisher keinerlei Hinweise darüber, daß man ihm evtl. mißtraut.«
Wollte ich auch noch über seine Machenschaften in Ungarn und Polen berichten, das Buch nähme kein Ende.
Ich bleibe bei der Mutter. Sie traf den Schwager in Budapest, erzählte, bat um strengste Verschwiegenheit. Salatzki aber erfuhr, dass Großmama Manuskripte von DDR-Autoren für die Mutter aus der DDR nach West-Berlin schleuste, dass »Wolfgang Hilbig und Gerd Neumann zu den Personen […] zu zählen seien, die Feinde der DDR sind (siehe frühere Berichte des IM über Rathenow)«. Oder, dass die Situation im Ullstein Verlag schwierig sei.
Schon im Herbst 1980 hatte sich gegen den frischen Wind, den der unbeugsame, vitale, ideenreiche Hans F. Erb, so habe ich ihn kennengelernt, in das Springer-Haus bringen wollte, ein Sturm erhoben. Auslöser war ein Boykottaufruf von Schriftstellern der Bundesrepublik – »Wir schreiben nicht für Springer-Zeitungen«. Einige Unterzeichner waren zuvor mit dem Verlag
Weitere Kostenlose Bücher