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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schädlich
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Salatzki, bis Rathenow geliefert war. Das war im November 1980.
    Jetzt war noch Frühjahr, und ich ging weiter zur Schule. Lernte Latein. Mit derselben Leidenschaft wie zuvor Russisch. In Englisch schlug ich mich durch. In Mathematik versagte ich. Physik und Biologie interessierten mich nicht. In Deutsch schrieb ich schöne Sätze. In Musik bedauerte ich das Ende meiner Musik. Die Klarinette wurde an einen Mann der Berliner Philharmoniker verkauft. Vielleicht spielt er sie heute noch.
    Dann war fast Sommer. Der brachte meine erste Klassenfahrt. Nach Bayern. Passau. Jugendherberge und das erste Mal von zu Hause weg mit Gleichaltrigen. Eine ganze Woche lang nichts als Wandern, Schwimmen und Besichtigungen. Besuche von Jungs auf den Mädchenzimmern. Mitten in der Nacht. Ich habe sie fast immer verschlafen. Die Reise bedeutete Abstand. Nicht nur räumlich. Ich stieg auf den Berg hinter der Herberge und fühlte mich frei. Frei von Berlin, Ost oder West. Wenn man weg ist, geht das. Bayern war erst einmal weit weg genug. Später musste es noch weiter sein. Später war es Amerika. Vielleicht, weil ich dann älter war. Mit jedem Jahr erhöhte sich die Kilometerzahl, die für den Abstand notwendig wurde, den ich brauchte.
    Von Kurt Tucholsky stammt der Satz »Wer die Enge seiner Heimat begreifen will, der reise«. Wir haben das Weite gesucht, weil wir in die Enge getrieben wurden, und lange gebraucht, die Weite zu finden. Ich in Amerika. »Anywhere I lay my head, boys, I will call my home« – als ich das hörte, hatte ich diese Art von Weite längst verinnerlicht, bloß keine Wurzeln schlagen, sie könnten herausgerissen werden.
    Goethe hatte nicht recht. Das Gute lag nicht nah. Man musste schweifen. In Bayern der Blick auf die Berge, damit ich merkte, dass ich doch noch nicht so groß war, wie ich es in Berlin vorgab zu sein oder sein musste. Die große Schwester, die große Tochter. Trotzdem kam ich als die zurück. Und wenn ich schon so war, dann verhielt ich mich auch so, manchmal wenigstens. Holte nicht die Schwester ab, sondern ging ins Kino. Vier Stunden Molière. Oder ging auf die Oranienstraße in Kreuzberg. Jedenfalls mied ich die Großmutter, die sich »zeitweilig in West-Berlin aufhielt«. Jedenfalls mied ich den Vater, der niemanden sehen wollte. Jedenfalls mied ich die Mutter, mit der ich mich stritt, wenn ich nicht funktionierte. Wenn die Mutter wegfuhr, Dienstreisen, passten Gerulf Pannach und seine Frau auf uns auf. Gerulf brachte seine Gitarre und sang sich in den Bart. Ich hörte zu. »Vom Rot das brennt«, von der Seele, die fluche, er brachte spanische Melodien ins Haus und seine starke Stimme.
    Aber ich hörte nicht nur zu. Wir sprachen viel. Darüber, wie man Westler werden sollte, wenn man aus der DDR kam, von der Angst, unterzugehen, dass es einem vielleicht genauso ergehen würde wie den Pennern an der Ecke, wenn man nicht schnell lernte, sich auszukennen. Gerulf versuchte sich auszukennen über die Musik von überall, erzählte mir von seinen Neuentdeckungen, schenkte mir Platten. Mit Gerulf war der Westen Musik. Und die DDR? Wir fragten uns, wie da rauskommen, auch wenn man schon längst draußen war, »und als ich da stand, ging’s mir so wie früher beim Nach-Milch-Anstehn«. Dieser dauernde Zwiespalt. Er sprach vom Gefängnis, manchmal. Wenn er vom Gefängnis sprach, merkte ich, dass ihm, der mir so kraftvoll erschien, so voller Leben, die Kraft kurz schwand. Dann schwieg er lieber. Und ich hörte »der Amselhahn, um viere früh, schreit mir sein schrilles Tirili vom Luftschacht in die Zelle« ganz anders.
    Gerulf ist 1998 mit nur neunundvierzig Jahren an Krebs verstorben, aber eins ist sicher: »He is not dead, he is in my head.« Nur ein Jahr später verstarb Jürgen Fuchs an einer unheilbaren Blutkrankheit. Der Verdacht, dass der Tod der Freunde darauf zurückzuführen sei, dass sie als Häftlinge des MfS Bestrahlungen ausgesetzt wurden, existiert bis heute. Die damalige Gauck-Behörde ließ eine wissenschaftliche Untersuchung durchführen, und nach Aussage Gaucks konnte kein Beweis gefunden werden. Aber es gibt Indizien. Häftlinge wurden nach Erkenntnissen der Gauck-Behörde in Untersuchungshaft in der Regel zweimal durchleuchtet. Zum Einsatz kamen »teilweise alte, nicht ordnungsgemäß eingestellte und gelegentlich auch defekte Geräte«. Allerdings erteilte das MfS Ausnahmegenehmigungen, mit denen Strahlenschutzbestimmungen der DDR umgangen wurden. Fazit der Wissenschaftler: »Es kann

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