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Immortalis

Immortalis

Titel: Immortalis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Khoury
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entschärfen und ein Gefühl der Einheit zu wecken. Zwei einheimische Fachleute würden mit Mia zusammenarbeiten. Einer war Christ, einer Muslim. Aber Mia musste schon bald feststellen, dass eine neue Definition der Geschichte nicht unbedingt willkommen war.
    Aber die große Dreißig rückte bedrohlich näher, sie hatte weder Mann noch Kinder zu versorgen, ihr privater Terminkalender war so öd und leer wie ein Schnapsladen in der Innenstadt von Kabul, außerdem würde sie ein faszinierendes und großzügig finanziertes Projekt ihr Eigen nennen dürfen – da war die Entscheidung eigentlich ein Kinderspiel, umso mehr, da sich damit die Gelegenheit bot, endlich ihre Mutter kennenzulernen. Sie wirklich kennenzulernen.
     
    «Es liegt buchstäblich unter der Moschee», erzählte Evelyn ihrer Tochter. «Könnte eine der frühesten Kirchen überhaupt sein. Ganz erstaunlich. Ich kann mit dir hinfahren, wenn du magst. Rames kommt aus einer Kleinstadt in der Nähe, und er hatte davon gehört.»
    «Und dieser Typ ist einfach da aufgekreuzt, aus heiterem Himmel?»
    Evelyn nickte.
    Mia musterte ihre Mom. Ihr ehrlicher, fester Ton verriet ihr, dass Evelyn nicht einfach einsilbig war, auch das nervöse Flattern wollte nicht vergehen. «Man kann sich nicht vorstellen, was sie da draußen durchmachen», sagte sie betrübt. «Hat er Arbeit gesucht?»
    Evelyn verzog voller Unbehagen das Gesicht. «Ja. Gewissermaßen. Es ist … kompliziert.»
    Offenbar wollte sie nicht weiter darauf eingehen. Mia beschloss, es dabei zu belassen. Sie nahm Evelyns Antwort mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis, erwiderte das halbe Lächeln und trank einen Schluck Wein. Einen Augenblick lang herrschte bedeutungsschwangeres Schweigen zwischen ihnen; dann schwebte ein Kellner herbei, füllte Mias Glas aus der fast leeren Weinflasche im Kühler und fragte, ob er noch eine bringen solle.
    Evelyn erwachte aus ihren Gedanken und richtete sich auf. «Wie spät ist es eigentlich?»
    Sie schaute auf die Uhr, und Mia sah den Kellner an und schüttelte den Kopf. Als er davonging, entdeckte Mia einen Mann mit kurzgeschnittenem, rabenschwarzem Haar, tiefliegenden Augen und einem pockennarbigen Gesicht. Er stand an der Bar, rauchte und schaute aus dem Augenwinkel zu ihnen herüber – ein kalter Blick, eine Idee zu scharf. Dann wandte er sich wieder ab. Sie war noch nicht lange in Beirut, aber sie wusste, dass die Männer in dieser Stadt anders Notiz von ihr nahmen, als sie es gewohnt war. Der Reiz ihres schönen Gesichts wurde verstärkt durch die erkennbar ausländische Erscheinung ihrer hellen, ein wenig sommersprossigen Haut und ihr honigblondes Haar. Es wäre gelogen, zu behaupten, dass ihr die flirtenden Blicke nicht gefielen, und sicher hätte sie den Blick des Mannes als Kompliment abgetan, erst recht, wenn er gutaussehend gewesen wäre. Aber nicht einmal seine Mutter wäre auf die Idee gekommen, ihn als «gutaussehend» zu beschreiben, und in seinen Augen hatte nichts gelegen, was man auch nur annähernd als Flirtversuch hätte deuten können. Im Gegenteil, sein verstohlener Blick hatte ihr eine Gänsehaut verursacht. Irgendwie passte der Mann nicht hierher, er sah nicht aus, als sei er zum Vergnügen da, und sein Gesichtsausdruck war einfach zu eisig, zu unbeteiligt, fast roboterhaft, und –
    Evelyn beendete Mias kurzen Anfall von Paranoia, indem sie plötzlich aufstand. «Ich muss wirklich los. Wo bin ich nur mit meinen Gedanken?», schimpfte sie mit sich selbst, während sie Jacke und Handtasche vom Sofa nahm. Dann sah sie Mia an. «Entschuldige, aber ich darf wirklich nicht zu spät … Ich bin verabredet. Können wir zahlen?»
    Mia sah die Eile im Gesicht ihrer Mutter. «Geh nur. Ich erledige das.»
    Evelyn fing an, in ihrer Handtasche zu wühlen. «Dann lass mich wenigstens –»
    Aber Mia legte ihr die Hand auf den Arm und hielt sie fest. «Geh einfach. Du kannst ja beim nächsten Mal zahlen.»
    Evelyn sah sie an, und ihr Lächeln war erfüllt von einer Vielfalt starker Emotionen – Dankbarkeit, Sorge, Unbehagen, vielleicht sogar Angst, dachte Mia mit jäher Beklommenheit. Dann ging Evelyn eilig davon.
    Mia sah ihr nach, wie sie sich zwischen den wenigen Gästen an der Bar hindurchschlängelte und im Dunst des Gedränges verschwand. Die Bar dröhnte vom Stimmengewirr der lauten, trinkfesten und noch rauchfesteren Klientel. Mia lehnte sich zurück und ließ sich in die Polster sinken. Sie wusste nicht recht, was sie denken sollte, aber als sie den

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