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Immortalis

Immortalis

Titel: Immortalis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Khoury
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dass sie Wein mit ihr getrunken hatte. Dann hatte sie sie im Hotel zurückgelassen. Warum war sie in dieser Gasse erschienen? Und noch wichtiger: War sie wohlauf?
    Trauer bohrte sich wie eine Faust in ihre Brust und umklammerte ihr Herz. Es hatte Tote gegeben. Sie war ganz sicher. Die Schüsse hallten noch in ihren Ohren. Der Soldat, den der Wagen durch die Luft geschleudert hatte. Der ohrenbetäubende, entsetzlich dumpfe Aufprall, mit dem er wie ein Crashtest-Dummy gegen die Windschutzscheibe geflogen war und sie zerschmettert hatte. Sie versuchte sich zu konzentrieren, sich deutlicher zu erinnern, aber jeder Stoß warf ihre Gedanken durcheinander.
    Sie wollte sich fallen lassen, die Ohnmacht erzwingen, aber es ging nicht. Die quälenden Schmerzen waren unerbittlich. Mit wachsendem Entsetzen wurden ihr die Einzelheiten dieser Fahrt bewusst. Stunden. Es dauerte schon mehrere Stunden. Das verhieß nichts Gutes. Nicht in einem so kleinen Land. Wohin wurde sie gebracht? Sie durchwühlte unzusammenhängende Erinnerungen an Zeitungsberichte, die sie vor Jahren gelesen hatte, in den «dunklen Tagen» des Libanon. Die Entführungen. Die Journalisten, die Geiseln, die willkürlich von der Straße weg verschleppt worden waren. Sie erinnerte sich, wie sie ihre Erlebnisse beschrieben hatten – in Klebestreifen gewickelt wie Mumien, in Kisten gezwängt, auf Lastwagen versteckt. Mit wachsendem Grauen sah sie die Zellen vor sich, in denen sie gefangen gehalten worden waren. Kahl. Kalt. An Heizkörper angekettet, die nicht funktionierten. Ernährt von ekelhaften Abfällen. Und der schrecklichste Gedanke schoss gleißend aus der Dunkelheit herauf.
    Niemand wusste je, wo sie festgehalten wurden.
    Jahre der Gefangenschaft. Die effizientesten Nachrichtendienste der Welt – und keine Spuren. Keine Informanten. Keine Lösegeldforderungen. Keine Befreiungsversuche. Nichts. Es war, als seien sie vom Angesicht der Erde verschwunden, um dann Jahre später wieder aufzutauchen – wenn sie Glück hatten.
    Der Wagen musste durch ein besonders tiefes Schlagloch gefahren sein, denn ihr Kopf wurde hochgerissen und prallte gegen das Blech des Kofferraumdeckels. Der jähe Schmerz genügte, um ihr den Rest zu geben, und sie versank im barmherzigen Frieden einer traumlosen Ohnmacht.

11
    Faruk starrte mit ausdrucksloser Miene auf den chaotischen Flickenteppich aus Unterkünften und behelfsmäßigen Zelten. Er fühlte das Leiden und die Verzweiflung in der Stille ringsumher und auch in der drückenden Dunkelheit, die nur hier und da durch den matten Schimmer einer Gaslaterne erhellt wurde. Es war gespenstisch still; nur ab und zu wehte der gedämpfte Klang vereinzelter Radios durch die Bäume. Die meisten Flüchtlinge waren inzwischen vom Schlaf überwältigt worden.
    Der Sanaji’i-Park war eine der seltenen Grünflächen im Betonlabyrinth Beiruts. «Grün» war allerdings eine großzügige Bezeichnung, wenn man bedachte, wie verdorrt und ungepflegt das Gelände selbst in normalen Zeiten war. Nach Ausbruch des Krieges im Süden des Landes hatten Hunderte von Flüchtlingen hier eine Bleibe gefunden – ebenso wie Faruk, der nach seiner Ankunft in der Stadt niemanden gehabt hatte, zu dem er hätte gehen können. Besser gesagt, niemanden mehr.
    Er nahm einen letzten Zug aus seiner Zigarette und trat sie auf dem Boden aus. Dann klopfte er seine Taschen ab. Die Zigarettenpackung, die er fand, war leer. Achselzuckend knüllte er sie zusammen und warf sie weg. Er fasste die Aufschläge seiner Jacke vor dem Hals zusammen und wich an die niedrige Mauer zurück, die am Park entlangführte.
    So weit war es mit seinem Leben gekommen. Er war allein in einem fremden, kriegsgeplagten Land. Obdachlos auf einem Fleckchen trockener Erde. Für ihn sah der nächste Morgen noch weniger verheißungsvoll aus als für all die Elenden, die sich auf dem Ödland vor ihm zusammendrängten.
    Er umschlang seinen Kopf mit zitternden Händen und versuchte die Welt auszublenden, aber der Rausch der letzten vierundzwanzig Stunden wollte nicht so einfach vergehen. Er rieb sich das Gesicht und verfluchte sich dafür, dass er an Evelyns Interesse gedacht hatte, dass er sich in ein praktisch abgeschlossenes Geschäft eingemischt hatte, dass er diese ganze Katastrophe heraufbeschworen hatte … und dann starrte er in die Dunkelheit und fragte sich, was er jetzt tun sollte.
    Fortgehen? Nach Hause, zurück in den Irak? Zurück … wohin? In ein zerstörtes Land, verwüstet von einem

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