Immortalis
brutalen Bürgerkrieg. Ein Land der massenhaften Entführungen, Todesschwadronen und Autobomben, ein Land des ungezügelten Chaos und des Leidens. Er schüttelte den Kopf. Es gab nichts, wohin er zurückgehen könnte, und er konnte auch nirgendwo anders hin. Sein Land gab es nicht mehr. Und jetzt war er hier, als Fremder in einem fremden Land, und seine einzige Kontaktperson und Freundin war entführt.
Seinetwegen.
Er hatte sie in die Sache hineingezogen, und jetzt hatten sie sie in ihrer Gewalt.
Der Gedanke bohrte sich wie ein Dolch in sein Herz. Immer wieder schüttelte er den Kopf. Wie hatte er das zulassen können? Es war seine Schuld, daran führte kein Weg vorbei. Er hatte sie gesehen, er wusste, dass sie kommen würden, und er hatte sie zu ihr geführt, sodass sie an seiner Stelle entführt worden war. Ein Schauer überlief ihn, als er an Hadsch Alis verstümmelte Leiche dachte. Seine alte Freundin – Sitt Evelyn – in den Klauen dieser Ungeheuer. Diese Vorstellung war so entsetzlich, dass er kaum daran denken konnte.
Er musste versuchen, ihr zu helfen. Irgendwie. Er musste die Leute wissen lassen, in welche Lage er sie gebracht hatte. Er musste ihnen helfen, sie zu suchen, und sie in die richtige Richtung lenken. Musste sie warnen und ihnen sagen, mit wem sie es zu tun hatten. Aber wie? Und mit wem konnte er reden? Zur Polizei konnte er nicht gehen. Er war illegal im Lande. Er hatte versucht, gestohlene Antiquitäten zu verkaufen. Selbst wenn er mit den besten Absichten käme, würde die Polizei einen illegalen irakischen Schmuggler nicht eben freundlich empfangen.
Er dachte an die junge Frau in der Gasse. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätten die Entführer auch ihn erwischt. Er würde … er dachte an die Bohrmaschine und stellte sich vor, wie die rotierende Spitze sich in seine Haut grub. Er schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf die Frau. Zunächst hatte er geglaubt, es sei reines Glück gewesen. Irgendeine Fremde, die sich im falschen Augenblick in die falsche Straße verirrt hatte. Aber dann dachte er daran, wie sie geschrien hatte. Es hatte sich angehört, als rufe sie «Mom!». Das verstand er nicht. War sie ihre Tochter? Und überhaupt – warum war sie dort gewesen? Hatte Evelyn sich mit ihr verabredet, oder war es nur ein Zufall gewesen?
So oder so, die Fragen waren rein theoretisch. Er wusste nicht, wer sie war und wie er sie erreichen sollte. Er war nicht in der Nähe geblieben, nachdem ihm die Flucht gelungen war. Er wusste nicht einmal, was danach aus der Frau geworden war. Vielleicht war sie ja auch entführt worden.
Ein Gesicht löste sich aus dem Wirrwarr seiner Gedanken. Der Mann, mit dem Evelyn in Sabqine gewesen war. Rames – so hieß er doch, oder? Was hatte Evelyn gesagt? Sie arbeiteten zusammen. An der Universität.
Ihn konnte er finden. In der archäologischen Abteilung war er schon gewesen. In Post Hall, auf dem Campus. Rames hatte ihn und Evelyn zusammen gesehen. Ihm könnte er berichten, was er wusste. Vielleicht hatte sie ihm sogar anvertraut, was Faruk ihr erzählt hatte. Er würde sich Sorgen um sie machen. Er würde ihn anhören.
Das war es. Etwas Besseres konnte er nicht tun. Je länger er darüber nachdachte, desto verlockender wurde die Idee. Er benötigte Geld. Sein Bargeld war fast aufgebraucht, und seine Lage war jetzt noch verzweifelter als vorher. Es ging nicht mehr darum, irgendwo außerhalb des Irrsinns seiner Heimat ein neues Leben anzufangen. Es ging ums nackte Überleben, schlicht und einfach. Er musste untertauchen, und das kostete Geld. Er musste einen Käufer für Abu Barsans Sammlung finden. Mit Abu Barsan hatte er nicht mehr gesprochen, seit er den Irak verlassen hatte. Inzwischen konnte der Mistkerl selbst einen Käufer gefunden haben, dann hätte Faruk nichts mehr zu verkaufen. Evelyns Kollege musste über Kontakte zu den entsprechenden Kreisen verfügen. Zu reichen libanesischen Sammlern. Vielleicht könnte er ihn dafür gewinnen, ihm beim Verkauf der Stücke zu helfen. Gegen eine Beteiligung. Die Kluft zwischen Arm und Reich war in dieser Stadt ein wahrer Canyon, und die meisten Leute waren heutzutage nicht gerade gut betucht. Geld war knapp. Und selbst die Tugendhaften und Prinzipientreuen mussten essen und ihre Miete zahlen.
Erschöpfung überkam ihn. Er ließ sich zu Boden sinken, rollte sich zusammen und hoffte auf Schlaf. Morgen früh würde er zur American University gehen. Rames suchen. Mit ihm sprechen. Und
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