Immortalis
vielleicht – vielleicht – würde die Sache für ihn doch noch ein besseres Ende nehmen als für seinen Freund Ali.
Aber daran glaubte er nicht eine Sekunde.
12
Tom Webster legte das Handy hin und schaute durch die gläserne Wand seines Büros am Quai des Bergues. Es war ein frischer Abend in Genf. Die Sonne versank hinter den zerklüfteten Gipfeln der Alpen im Westen; sie spiegelte sich im See und überzog das ruhige Wasser mit ihrer feurigen, rosagoldenen Glut. Noch hatte es nicht geschneit, aber das würde bald kommen.
Der Anruf hatte ein tiefes Unbehagen bei ihm hinterlassen.
Er ließ sich das kurze Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen, analysierte jede Nuance, ging alles Wort für Wort durch. Als Erstes die Pause, nachdem das Gespräch angenommen worden war. Eindeutig ein Zögern. Dann ein unverständlicher Wortwechsel – er war ziemlich sicher, dass es Arabisch gewesen war. Dann der Mann, der schließlich mit ihm gesprochen und behauptet hatte, er sei Evelyns Kollege. Sein Ton hatte förmlich geklungen. Dass er beharrlich darauf bestanden hatte, zu erfahren, wer da anrufe, war ein deutliches Indiz dafür, dass da nicht irgendein Freund zufällig Evelyns Telefon abgenommen hatte.
Sie war in irgendetwas reingeraten. Und dann ein Gedanke, der ihn noch mehr beunruhigte: Geht es ihr gut?
Die Nachricht, die er von der Telefonistin im Institut erhalten hatte, war eine Überraschung gewesen. Es war jetzt … wie lange her?
Dreißig Jahre.
Was mochte Evelyn nach all der Zeit veranlasst haben, anzurufen?
Er hatte da einen Verdacht.
Die beiden Ereignisse – der plötzliche Anruf von einem seiner Scouts im Irak, vor etwas mehr als einer Woche, und Evelyns Anruf in der Zentrale des Haldane Institute – mussten miteinander zusammenhängen. Das lag auf der Hand. Aber er hatte nicht mit Problemen gerechnet. Er und seine Partner arbeiteten eigentlich immer außerhalb des Radars. Natürlich mussten sie auf der Hut sein – Diskretion war das A und O ihrer Arbeit –, aber es gab keinen Grund, mit Komplikationen zu rechnen.
Er bemühte sich, den Anruf rational zu betrachten und seine Besorgnis zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht. Das alles ließ nichts Gutes ahnen. Schon vor langer Zeit hatte er gelernt, auf seine Instinkte zu vertrauen, und jetzt meldeten sie sich lautstark zu Wort. Er musste wissen, was dort los war. Danach musste er die andern anrufen und sie informieren. Und dann mussten sie zu dritt – wie sie es immer taten – einstimmig entscheiden, wie weiter zu verfahren war.
Er sah auf die Uhr. In Beirut war es zwei Stunden später. Der Zeitunterschied ließ vermuten, dass er in den nächsten paar Stunden keine Antworten bekommen würde. Er würde aufbleiben und kurz vor Tagesanbruch ein paar Anrufe tätigen müssen. Aber das machte ihm nichts aus.
Wie seine Vorgänger hatte auch er sein ganzes Leben dieser Aufgabe geweiht.
Und wenn sein Instinkt ihn nicht täuschte, war jetzt auch Evelyn darin verstrickt.
Wieder einmal.
Er atmete tief aus und wandte sich seinem Schreibtisch zu. Der Kodex lag dort. Er hatte ihn vorhin aus dem Safe genommen. Jetzt lag er still und unschuldig da. Er starrte ihn an, und dann nahm er ihn in die Hand und schüttelte sanft den Kopf.
Unschuldig.
Wohl kaum.
Seit Jahrhunderten hatte das Buch ihn und andere in seinen betörenden Bann gezogen. Es war unwiderstehlich, und das aus gutem Grund. Es war es wert.
Achselzuckend schlug er die erste Seite auf und dachte daran, wie alles angefangen hatte.
13
TOMAR, PORTUGAL – AUGUST 1705
Sebastian spürte die klamme Kälte, die aus den Mauern sickerte und seine Knochen mit ihrer tödlichen Kraft durchdrang, als er dem Wächter die schmale Wendeltreppe hinunterfolgte.
Er hielt den Blick gesenkt, um nicht in die lodernde Fackel zu schauen, die der Wächter trug. Im goldenen Flackerlicht sah er, dass sich in der Mitte der Steinstufen eine Rille befand. Zuerst hatte er sich gewundert, aber dann war ihm klargeworden, dass sie durch die Fußketten zahlloser Gefangener in den Stein geschürft worden sein musste.
Viele Gefangene hatten hier in Tomar geschmachtet. Und es würden noch mehr werden.
Er folgte dem Wächter durch einen langen, engen Gang, der zu beiden Seiten von groben Holztüren mit abweisenden Stahlschlössern gesäumt war. Endlich blieb der Wächter vor einer dieser Türen stehen. Er nestelte an einem großen Schlüsselbund herum und schloss auf. Sie bebte in ihren Angeln, als sie nach außen
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