Immortalis
neben sich. «Ich muss dir etwas erzählen.»
Sebastian nickte matt und setzte sich.
«Ich hatte gehofft, ich würde dich noch viele Jahre lang nicht fragen müssen, Sebastian. Ich habe es immer schon vorgehabt, aber …» Er seufzte tief. «Ich glaube, ich kann nicht länger warten.»
Sebastian war überrascht und verwirrt. «Wovon sprichst du, Isaac?»
«Ich muss dir etwas anvertrauen. Und es könnte eine ungeheure Bürde für dich sein. Eine, die dir den Tod bringen oder dich am Ende in einen Palast wie diesen hier führen könnte.» Isaac schwieg. Anscheinend wollte er sehen, wie der junge Mann reagierte, ehe er fortfuhr. «Soll ich weitersprechen, oder trügt mich der Glaube, dass du noch der Sebastian bist, der du immer warst?»
Sebastian sah den prüfenden Blick. Beschämt schlug er die Augen nieder. «Ich bin so, wie du mich in Erinnerung hast, aber ich bin nicht sicher, dass ich deines Vertrauens würdig bin», sagte er wehmütig. «Ich habe Dinge gesehen, Isaac – Dinge, die kein Mensch zulassen dürfte, und doch habe ich dagestanden und geschwiegen.» Er hob den Kopf und befürchtete einen missbilligenden Blick, aber im Gesicht des Gefangenen sah er nichts als Warmherzigkeit und Fürsorge. «Ich habe das Andenken meines Vaters verraten. Und ich habe dich verraten.»
Isaacs verstümmelte Hand legte sich zitternd auf den Arm des jungen Mannes. «Wir leben in bösen Zeiten. Nimm du nicht die Schuld an den Gräueltaten derer auf dich, in deren Macht es stände, auch anders zu handeln.»
Sebastian nickte, aber noch immer schnürte die Reue ihm das Herz ab. «Keine Bürde könnte zu schwer sein, Isaac. Nicht nach all dem, woran ich teilhatte.»
Isaac dachte nach. «Dein Vater wollte, dass du es weißt», sagte er schließlich. «Ich habe ihm versprochen, es dir zu sagen, wenn der richtige Augenblick gekommen wäre. Und ich fürchte, wenn ich es dir jetzt nicht sage, werde ich nie mehr die Gelegenheit dazu haben. Und dann wäre alles … verloren.»
Sebastians Augen leuchteten auf. «Mein Vater?»
Der alte Mann nickte. «Wir haben etwas gefunden, er und ich, vor vielen Jahren. Hier in Tomar. In der Krypta des Klosters.» Er schaute Sebastian durchdringend an, und sein Blick war voller Inbrunst. «Ein Buch, Sebastian. Ein ganz wundersames Buch. Ein Buch, das einstmals vielleicht ein großes Geschenk enthielt.»
Sebastian zog die Stirn kraus. «Einstmals?»
«Das Kloster, wie du weißt, verwahrt einen großen Wissensschatz in seinen Krypten – Kisten und Truhen mit alten Kodizes und Schriftrollen vergangener Jahrhunderte, die Beute fehlgegangener Expeditionen in fremde Länder und auch der Kreuzzüge. Das alles wartet darauf, katalogisiert und übersetzt zu werden. Das ist eine mühselige und niemals endende Aufgabe. Dein Vater und ich hatten das Glück, dass die Mönche uns einluden, mit ihnen an den Übersetzungen zu arbeiten, aber es waren so viele, und ein großer Teil sind profane Aufzeichnungen von Disputen, private Korrespondenzen von trivialer Bedeutung … Banalitäten. Doch in einer Truhe fanden wir ein Buch, das auf den ersten Blick unser Interesse weckte. Es lag versteckt unter anderen wertvollen Büchern und Schriftrollen. Irgendwann in seiner langen Vergangenheit war es feucht und teilweise unleserlich geworden, und die letzten Seiten und der hintere Einbanddeckel fehlten. Aber die Vorderseite war weitgehend unversehrt. Darauf war ein Symbol, das wir noch nie gesehen hatten: eine Schlange, zum Kreis gebogen, die ihren eigenen Schwanz fraß. Das Buch war in altem Arabisch verfasst, in einer Sprache, die sehr schwer zu übersetzen ist. Aber der Titel war klar verständlich.» Er machte eine Pause und räusperte sich, um seine ausgedörrte Kehle klären. Dann warf er einen wachsamen Blick zur Tür und vergewisserte sich, dass niemand sie belauschte. «Es hieß Kitab al Wasifa – das Buch der Verordnungen.»
Der alte Mann beugte sich verschwörerisch vor. «Dein Vater und ich beschlossen, den Mönchen nichts von diesem Buch zu sagen. Eines Nachts schmuggelten wir es aus dem Kloster. Wir brauchten Monate, um es richtig zu übersetzen. Die Neschi-Schrift, in der es geschrieben war, war uralt, und das Arabische war durchsetzt von persischen Wörtern und Redewendungen. Endlich konnten wir es lesen. Und wir vier – deine Eltern, ich und meine geliebte, verstorbene Sarah – schlossen einen Pakt. Wir wollten die Lehren des Buches selbst erproben und sehen, ob sie funktionierten. Und wenn
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