Immortalis
aber auch da fand er nichts Überraschendes. Offenbar waren sie nur zwei Frauen, die ein ruhiges Leben führten und sich stets an Recht und Gesetz hielten. Es gab nicht einmal ein unbezahltes Strafmandat für falsches Parken. Er stieß auf ein paar ziemlich starke Kommentare, die Evelyn abgegeben hatte, als zwischen Immobilienunternehmern und Denkmalsschützern der Kampf um die Innenstadt getobt hatte, aber sie klangen nicht übermäßig provokant, und er tat sie rasch als irrelevant ab.
Corben lehnte sich zurück und ließ die Ereignisse seit Mias Treffen mit Evelyn in der Hotelbar Revue passieren. Auffällig war das gelassene Selbstvertrauen, mit dem die Entführertruppe operierte. Seit den dunklen Zeiten der Gesetzlosigkeit hatte Beirut einen weiten Weg zurückgelegt. Selbst ein gutbewaffnetes, gutausgebildetes Killerteam konnte im Grunde nicht mehr ungestraft operieren, wenn es nicht über «offizielle» Beziehungen oder das Einverständnis mindestens einer der wenigen einflussreichen lokalen Milizen verfügte, und das bedeutete unausweichlich auch eine Verbindung zu einem der staatlichen Geheimdienste Syriens oder des Libanon. Er rechnete nicht damit, dass die Identifizierung des toten Killers einen unmittelbaren Hinweis darauf liefern würde, für welchen Clan das Team arbeitete. Auftragskiller waren billig zu haben, und Spuren zu verwischen war nicht schwierig. Jede Miliz, jede Organisation verfügte über einen Insider, der so manches verschwinden lassen konnte.
Er musste herausfinden, woher die Bedrohung kam. Schon ein Akzent hätte viel dazu beigetragen, die Herkunft des Gangsters zu ermitteln und womöglich zu seinem Auftraggeber zu führen, den es ja geben musste. Leider war die Sprachfähigkeit des Mannes ernsthaft in Frage gestellt durch seinen Tod. Corben wusste, dass diese Männer jetzt schon zwei Einsätze vermasselt hatten. Unwahrscheinlich, dass ihnen das ein drittes Mal passieren würde. Von jetzt an musste er auf der Hut sein.
Er nahm sich wieder den Ordner vor, den er auf Evelyns Schreibtisch gefunden hatte. Er las ihre Aufzeichnungen jetzt noch einmal gründlich und betrachtete die Fotos.
Er sah die unterirdische Kammer vor sich, die sie in Al-Hillah, südlich von Bagdad entdeckt hatte, und dachte an das Labor, das er in Augenschein genommen hatte.
Beides im Irak, keine hundert Meilen weit voneinander entfernt.
Beides mit dem Uroboros an der Wand.
Sollte das ein Zufall sein, dann gab es auch selbstlose Politiker, schwarze Schimmel und einen demokratischen Nahen Osten.
Er las seine Notizen über das Gespräch mit Mia durch und malte einen Kreis um die Worte «irakisches Faktotum». Nach kurzem Nachdenken sah er sich noch einmal die Polaroid-Fotos aus Evelyns Handtasche an. In seinem Kopf nahm eine Idee Gestalt an, und er gab ihr ein wenig Raum. Alles schien zu passen. Ein Mann aus Evelyns Vergangenheit im Irak, dieses «Faktotum», taucht unangemeldet auf. Kurz darauf verschwindet sie. In ihrer Handtasche sind Fotos von wertvollen mesopotamischen Antiquitäten. Er war sich sicher, dass das Faktotum gekommen war, um ihr die Stücke zum Kauf anzubieten, speziell das Buch. Sie hatte schon einmal etwas mit der schwanzfressenden Schlange zu tun gehabt. Corben musste herausfinden, was. Aber er wusste, dass seine Zielperson nach all den Jahren noch gesund und munter war und mit hemmungsloser Skrupellosigkeit operierte.
Er war nah daran.
Er konnte ihn fühlen, den sogenannten Hakim, irgendwo da draußen, wie er seinem unfassbaren Ziel nachjagte. Er musste ihn ans Licht treiben, und der nächstliegende Weg zu ihm führte über das irakische «Faktotum». Es war klar, dass der Mann hatte, was der Hakim suchte. Er war der Schlüssel zu diesem Rätsel, und er war immer noch irgendwo unterwegs. Die Frage war: Wie konnte man ihn finden, bevor der Hakim ihn fand?
Corben schaute sich ein weiteres Mal Evelyns Unterlagen an. Sie enthielten mehrere alte Fotos, Erinnerungsbilder von der Ausgrabung, um die es hier ging, und einige zeigten Evelyn mit Männern, die offensichtlich arabische Mitarbeiter waren. Aber war einer von ihnen der gesuchte Mann?
Mia musste es wissen.
Er würde mit ihr darüber reden müssen. Lieber hätte er sie nicht weiter in die Sache hineingezogen, denn sie hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden schon genug durchgemacht, aber hier stand viel auf dem Spiel, und sie hatte etwas damit zu tun. Er würde sehr vorsichtig sein müssen. Nicht so einfach, wenn man bedachte, mit wem
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