Immortalis
er es zu tun hatte.
Das Summen des Telefons auf seinem Schreibtisch riss ihn aus seinen Gedanken. Er warf einen Blick auf das Display, als er nach dem Hörer griff. Es war der Botschafter.
25
Verzweiflung senkte sich wie dichter Winternebel auf Evelyn, als sie die Wände ihrer Zelle anstarrte.
Auf den ersten Blick war der kleine Raum besser, als sie erwartet hatte. Er hatte keine Ähnlichkeit mit den verdreckten, baufälligen, rattenverseuchten Höllenlöchern aus den Berichten über die Geiselnahmen der achtziger Jahre. Es war eher ein Raum, wie man ihn vermutlich in einem durchschnittlichen Krankenhaus im Nahen Osten finden würde. Vielleicht nicht in jedem Krankenhaus. Eher in einer psychiatrischen Klinik.
Wände, Fußboden und Decke waren weiß gestrichen. Das Bett war zwar schmal und am Boden festgeschraubt, aber es hatte eine richtige Matratze und bot sogar den Luxus eines Kopfkissens, eines Lakens und einer Wolldecke. Es gab eine Toilette und ein kleines Waschbecken, und beides funktionierte. Zwei Neonröhren an der Decke, die lästig summten. Aber zwei Dinge beunruhigten sie in dieser relativ zivilisierten Unterkunft zutiefst: Die einzige Öffnung, die sie finden konnte, war ein kleines, verspiegeltes Beobachtungsfenster, vermutlich ein Einwegspiegel, durch den ihr Entführer durch die dicke Stahltür hineinschauen konnte. Und die Tür hatte keine Klinke. Die relativ komfortable Einrichtung ließ einen längeren Aufenthalt erwarten, und die klinische, kalte Strenge war eigentlich noch bedrohlicher als ein rattenverseuchtes, feuchtes Loch. Eine fast greifbare Bösartigkeit ging von diesen Wänden aus.
Der brennende Schmerz, der ihre Adern versengt war verschwunden. Langsam rieb sie sich die bloßen Arme, fassungslos, weil sie keinerlei Nachwirkung mehr spürte. Wie hatte er es noch genannt? Sie konnte sich nicht erinnern. Voller Wut auf sich selbst dachte sie daran, wie sie alles verraten hatte. Sie fühlte sich schwach, hilflos und gedemütigt. Seit sie vor all den Jahren in diese Region gekommen war, hatte sie zahlreiche Strapazen und viele schwierige Situationen erlebt, und sie war immer stolz auf ihre innere Stärke und Entschlossenheit gewesen. Die letzten paar Stunden waren wie ein Bulldozer über ihr Selbstwertgefühl hinweggerollt. Ihr Peiniger hatte sie mühelos in ein verängstigtes Wrack verwandelt, und die Erinnerung daran brannte ebenso glühend in ihren Adern wie die dämonische Flüssigkeit, die er ihr so brutal gespritzt hatte.
Aber das Schlimmste, frustrierender und zermürbender als alles andere, war die Tatsache, dass sie nicht die leiseste Ahnung hatte, in was sie da hineingeraten war.
Der Fund von Al-Hillah hatte letzten Endes nicht weitergeführt. Die Spur, die in der Kammer begonnen hatte, hatte auch dort geendet, und mit ihr auch ihre Affäre.
Nachdem Tom sie verlassen hatte und als der Wirbelsturm in ihrem Herzen abgeebbt war, hatte sie sich Selbstvorwürfe gemacht, weil sie sich so sehr von ihm hatte hinreißen lassen und weil sie die Anzeichen nicht hatte sehen wollen. Andererseits war er fast unerträglich schwer zu durchschauen gewesen. In der gesamten Zeit ihrer kurzen Beziehung hatte sie ein tiefgründiges Unbehagen bei ihm gespürt, einen verborgenen Konflikt, den er mit sich auszufechten hatte. Sie zweifelte nicht daran, dass er ihr etwas verheimlicht hatte, und dass sie jetzt hier in dieser Zelle saß, war der Beweis dafür. Damals hatte sie geglaubt oder wenigstens gehofft, dass sie nicht der öde Seitensprung gewesen war: eine Ehefrau irgendwo, ein profanes Leben, dem er für kurze Zeit hatte entfliehen wollen. Sie hatte den Eindruck gehabt, dass es tiefer ging. Aber wenn sie gewagt hatte, ihn darauf anzusprechen, war er ausgewichen und hatte das Gespräch geschickt und charmant auf ein anderes Gleis gelenkt. Sie wusste, dass seine Gefühle für sie echt gewesen waren, das hatte er selbst gesagt. Natürlich wusste sie auch, dass Männer Lügner waren, aber tief im Innern war sie fest davon überzeugt gewesen, dass sie sich in ihm nicht irrte, und ihr Instinkt hatte sich im Laufe der Jahre als äußerst zuverlässig erwiesen. Noch heute erinnerte sie sich an die Ehrlichkeit in seinen Augen, wenn er ihr sagte, was er für sie empfand, aber sie war nie über die Nüchternheit hinweggekommen, mit der er dann weitergezogen war.
Noch jetzt konnte sie seine Abschiedsworte hören, als stünde er neben ihr.
Ich kann nicht bei dir bleiben. Wir können nicht zusammen
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