Immortalis
sie das Zeichen kennengelernt hatte: auf der Flucht vor einer Killerbande, im Kugelhagel. Jedenfalls blieben ein paar Fragen nach wie vor unbeantwortet. Musste man den Schwanzfresser letztlich fürchten? Was bedeutete er für den Hakim? Hatten die Mitglieder des geheimen Zirkels, der in der unterirdischen Kammer zusammengekommen war, vielleicht etwas besessen, das der Hakim unbedingt haben wollte?
Sie dachte an die Zeit, in der es den Geheimbund gegeben hatte: das zehnte Jahrhundert. Mit Hilfe ihres Laptops suchte sie nach Wissenschaftlern aus dieser Epoche. Ein paar der großen Namen, an die sie sich erinnern konnte – Avicenna, Dschabir ibn Hayyan –, erschienen sofort auf dem Bildschirm. Sie surfte von einer Website zur nächsten, sammelte allerlei Informationshäppchen und loggte sich zwischendurch auch in ihren Account bei Britannica online ein.
Je mehr Mia las, desto unbehaglicher fühlte sie sich. Nichts von dem, was sie fand, konnte sie in irgendeine Verbindung zum Hakim bringen. Dabei gab es keinen Mangel an großen Geistern, die zur Zeit der «Brüder der Reinheit» in dieser Region tätig gewesen waren. Sie stöberte in zwei Biographien Al-Farabis, der mit seinem Verständnis von Wissenschaft und Philosophie nach weitverbreiteter Ansicht nur von Aristoteles übertroffen wurde, was ihm den Spitznamen «Zweiter Lehrer» einbrachte. Sie las über Al-Rasi – den Europäern später als Rhases bekannt –, den Vater des Gipsverbandes, der damit schon im zehnten Jahrhundert Knochenbrüche richtete, und über Al-Biruni, der ausgedehnte Reisen durch den Fernen Osten unternahm und ausführliche Abhandlungen über siamesische Zwillinge schrieb. Für Mias Interesse bedeutsamer war allerdings Ibn Sina – oder, wie er im Abendland genannt wurde, Avicenna. Später einflussreichster Arzt seiner Zeit, war Avicenna schon mit achtzehn Jahren ein großer Philosoph und Dichter. Mit einundzwanzig hatte er lange und kenntnisreiche Traktate über alle zu seiner Zeit bekannten Wissenschaften verfasst. Von seinen Vorgängern unterschied er sich insofern, als er sich mehr für das Potenzial von Chemikalien bei der Behandlung von Krankheiten interessierte. Er studierte Erkrankungen wie Tuberkulose und Diabetes in allen Einzelheiten, und sein Hauptwerk, der vierzehnbändige Kanon der Medizin , war so maßgeblich und fortschrittlich, dass er in Europa bis ins siebzehnte Jahrhundert das Standard-Lehrbuch der Medizin blieb.
Alle diese Männer hatten in vielen Disziplinen große Fortschritte erzielt. Sie hatten den menschlichen Körper studiert, Krankheiten identifiziert und Heilmittel vorgeschlagen. Aber nichts verband einen von ihnen mit dem Uroboros, und sie fand auch in ihren Werken nichts Zweifelhaftes. Ihr einziges Interesse bestand darin, die Kräfte der Natur zu beherrschen.
Wenn diese Wissenschaftler und Philosophen ein Anliegen hatten, dann das, der Menschheit zu helfen, statt sie zu vernichten.
Mia nahm die Fotos der unterirdischen Gewölbe in die Hand und betrachtete sie noch einmal. Sie versuchte sich vorzustellen, was sich einst dort ereignet hatte, und sah sie nun mit anderen Augen. Eigentlich war nichts Unheimliches daran. Auf einem Blatt hatte Evelyn einen Plan der Kammern skizziert und darauf vermerkt, was sie dort gefunden hatten: keine Gebeine, keine Spuren von getrocknetem Blut, keine Schneidewerkzeuge oder Opferaltäre. Anscheinend war Evelyn zu dem gleichen Schluss wie Mia gekommen. Unter die Zeichnung hatte sie mit ihrer ausgeprägten Handschrift das Wort Zuflucht geschrieben und es wieder mit einem Fragezeichen versehen.
Eine Zuflucht wovor? Vor wem oder was hatten sich die Mitglieder des Geheimbundes versteckt?
Plötzlich überkam Mia eine schwere Müdigkeit. Da der Akku ihres Laptops immer schwächer wurde und die Recherche bald unmöglich machen wüde, entschloss sie sich, wieder ins Bett zu gehen.
Diesmal dauerte es nicht lange, bis sie einschlief, ein hartnäckiger, verwirrter Gedanke schien jedoch entschlossen zu sein, jegliche Hoffnung auf einen friedlichen Schlaf zunichtezumachen: der Gedanke an ein uraltes Grauen, das entfesselt wurde, um diese Welt zu verwüsten, angekündigt durch das quälende Bild der schwanzfressenden Schlange, die sich unerbittlich in die tiefsten Winkel ihres Gehirns geringelt hatte.
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PARIS – OKTOBER 1756
Der falsche Graf bahnte sich müde einen Weg durch den stickig heißen Ballsaal. Sein Kopf dröhnte von dem hochnäsigen Geplapper, dem schrillen Gelächter
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