Imperator
vergaß Lepidina nie.
Und jetzt war sie wieder da.
Seine Frau, die neben ihm im Bett lag, war ebenfalls wach. Die warme, praktische Cloda war die Tochter eines Holzhändlers. Ihr Mann hatte keine Geheimnisse vor ihr – nicht einmal, was Lepidina betraf. Daher wusste Cloda, dass dieser Geist der Vergangenheit zurückgekehrt war, um sie für eine Weile heimzusuchen; sie wusste aber auch, dass Lepidina bald im Nebel verschwinden und Brigonius wieder ihr gehören würde.
XX
Nicht lange nach Tagesanbruch traf er sich mit Lepidina am Tor des Kastells. Einer der Sklaven ihres Gemahls hatte Pferde für sie vorbereitet, dazu ein Paket mit Speisen und Wein. Es war ein heller Oktobermorgen, nur ein paar Tage nach der Herbst-Tagundnachtgleiche, und für die Jahreszeit ungewöhnlich kalt; der Atem der Pferde bildete Wolken in der Luft, und dicker Tau glitzerte am Boden. Aber die Sonne stand tief, der Himmel war dunkelblau, und das intensive Licht ließ die Steinquader der Kastellmauern glänzen.
Und in dieser Umgebung sah Lepidina wunderschön aus, dachte Brigonius hilflos. Sie trug einen praktischen Lederumhang, eine Wollhose und schwere Sandalen. An ihrem Hals sah er ein Medaillon, an das er sich zu erinnern glaubte, einen Fisch aus Silber. Ihr volles rotes Haar, in dem sich nun ein paar graue Strähnen zeigten, war aus der Stirn gekämmt und unter eine Wollmütze gestopft. Sie schien keine Kosmetika aufgelegt zu haben, und das natürliche Rosa ihrer Haut leuchtete. Sie war immer noch schön, aber es war nicht mehr die Schönheit eines Mädchens, dachte er. Dies war die wehmütige Herbstschönheit einer Frau an der Schwelle zum Alter.
Sie sah ihn mit ihren dunklen Augen an und wandte sich fast mädchenhaft ab. »Du starrst mich an. Du warst immer ein Narr, Brigantius-Brigonius.« Aber es klang nicht vorwurfsvoll.
»Tut mir leid. Aber du bist einfach so …«
»Wenn du sagst, ich sei schön, boxe ich dich. Ich habe drei kräftige künftige römische Senatoren und eine Tochter zur Welt gebracht. Sie ist schön. Ich bin eine Mutter.«
»Meinetwegen. Aber du siehst aus wie eine Brigantin.«
Das schien sie zu berühren. »Tatsächlich?«
»Du siehst aus, als gehörtest du hierher. Als gehörtest du …«
»Als gehörte ich an deine Seite. Meinst du das?«
Er schaute ihr in die Augen, und für einen Moment dehnte sich die Welt um sie herum aus, das Kastell, die Pferde, der geduldige Sklave, ja sogar der mächtige Wall wichen zurück, und sie blieben allein in ihrem eigenen kleinen Universum.
»Das bist immer noch du«, sagte er. »Da drin. Irgendwie sehe ich das.«
»Ja. Wie viel Gepäck wir jetzt mit uns herumschleppen! Unsere erschlaffenden Körper, unsere Lebensgefährten und Kinder, unsere ganzen Angelegenheiten. Und doch sind wir immer noch da.«
Er verliebte sich erneut in sie, dachte er, Coventina helfe ihm! Aber der Moment ging vorüber, und Brigonius zog an den Zügeln seines Pferdes.
Sie ritten östlich von Banna an der Linie des Walls
entlang. Ihre Pferde waren lebhaft, froh, an diesem kalten Morgen ihre Muskeln betätigen zu können. Sie befanden sich auf der Südseite des Walls, zwischen der Mauer zu ihrer Linken und dem schützenden Schanzwerk zu ihrer Rechten, und ritten in die tief stehende Sonne hinein, die den Tau auf dem aufgewühlten Erdreich des umschlossenen Streifens glitzern ließ. An manchen Stellen sah man noch, wo die Linie des Walls Pflugfurchen querte – das letzte Überbleibsel eines enteigneten Bauern.
Sie gelangten auf eine Anhöhe, und Brigonius zügelte sein Pferd. Von hier aus hatten sie einen guten Blick auf den Wall, der sich vom westlichen bis zum östlichen Horizont über das Land zog; die knallroten Streifen, die auf die Mauer gemalt waren, leuchteten im nördlichen Licht der tief stehenden Sonne, der Sandstein der glatten Meilen-Kastellmauern glühte. Der Wall war ein von Menschen erschaffenes Ding, das die natürliche Landschaft in zwei Teile zerschnitt.
Und das Bild war nicht statisch, es enthielt nicht nur ein Ding aus Stein und Grassoden, sondern es gab auch Menschen darin. Trotz der frühen Stunde herrschte bereits Verkehr auf den groben Dämmen, die zum nächsten Meilen-Kastell führten, und von dessen Feuerstellen stieg Rauch in die frische Luft empor. In einem Mauerabschnitt war ein Legionärstrupp eifrig bei der Arbeit; man hörte den glockenhellen Klang von Hacken auf Stein und ferne Rufe, wie Möwengeschrei. Selbst jetzt wurde noch am Wall gebaut, er wurde
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