Imperator
konnte er auch anderen besorgten Gruppen zugänglich gemacht werden. Eine Petition also. Während er dastand, überlegte er sich schon ein paar geeignete Formulierungen für den ersten Absatz – er würde Rat bezüglich der korrekten respektvollen Anrede für ein Schreiben an einen modernen Kaiser brauchen …
»Bist du eingeschlafen, Thalius?« Cornelius’ Ton war spöttelnd.
Thalius’ Augen klappten auf.
Aurelia beobachtete ihn mit ausdrucksloser Miene. »Was denkst du, Thalius?«
Verärgert und abwehrend sagte er: »Ich denke, dass selbst Konstantins Handlungen belanglos sind im Vergleich zu den größeren Kräften, die unsere Zeit prägen. Ich denke, wir lenken uns vielleicht nur mit einem Wortspiel von den Unwägbarkeiten der Zukunft ab.«
»Vielleicht ist das so«, sagte Cornelius, offenbar nicht beleidigt. »Und vielleicht sind wir nicht so oberflächlich, wie du zu glauben scheinst, Thalius. Was immer du sagst, wir müssen eine Entscheidung treffen. Was wirst du tun ?«
Thalius, peinlich berührt von seinem Ausbruch, atmete tief durch. »Ich bin dabei.« Er warf Aurelia einen Blick zu. »Lies die Prophezeiung vor.«
Aurelia trat auf den Jungen zu, der mit der verbissenen, alternativlosen Geduld eines geborenen Sklaven wartete, den Rücken gebeugt, die Tunika über den Kopf gezogen. Mit überraschender Zärtlichkeit berührte Aurelia ihn an der Schulter. »Tut mir leid, Kind. Es ist gleich vorbei.« Mit einer manikürten Fingerspitze begann sie, das Akrostichon nachzufahren.
»Von A nach O, von Alpha nach Omega – von unten links nach oben rechts, denn nach eurem Brauch ist Gott immer auf der rechten Seite zu finden, nicht wahr, Thalius? Das ist also ein Weg zu Gott, der wahre Weg für den Frommen. Aber es ist ein langer, verworrener Weg. Wie schreiten wir voran? Ich glaube, diese diagonalen Buchstaben sind ein Hinweis: C, O und dann nach oben zum N … C-O-N, vielleicht ein Verweis auf Konstantin in der lateinischen Schreibweise, Constantinus? Und dann würde ich sagen, wir folgen der Diagonale wieder nach unten – S, T – und dann in die Ecke – A –, und arbeiten uns auf der langen Diagonale wieder nach oben …«
Thalius hielt den Atem an, als der Weg ihres Fingers, der sich an den Diagonalen des Quadrats entlangbewegte, Worte ergab:
A * CONSTARE * PERIRE * O
»Von Alpha bis Omega«, las er. »Standhaft bleiben. Sterben.«
Cornelius richtete sich auf und schnaubte. »Ist das alles? Das ist ja nicht einmal ein Satz. Ein hübsches Motto für euch fromme Gestalten, nehme ich an. Bleibt standhaft im Tod, und ihr werdet zu Gott geführt . Schön. Aber uns nützt es nichts, oder?«
Aurelia sagte: »Schau noch einmal genau hin, du Narr. Es gibt mehrere Bedeutungsebenen. Siehst du das nicht? Constare – Konstantin – perire …«
Und in diesem Augenblick erkannte Thalius die Bedeutung
der Botschaft. Der Textbrocken war dreihundert Jahre alt, und doch war er sehr spezifisch, und er traf wie ein von der Sehne geschnellter Pfeil ins Herz seines eigenen modernen Dilemmas.
Wenn die wahre Kirche überleben sollte, musste Konstantin sterben.
Der Sklavenjunge begann zu zittern.
XI
Nachdem Audax an Thalius verkauft worden war, hatte man ihn quer durchs Land zur Küste gebracht, an einen Ort namens Rutupiae. Dann hatte der Weg durch eine riesige Stadt und über einen breiten Fluss geführt, viele Meilen weit durch ein grünes Land voller Bauerhöfe, Kanäle und Gräben und schließlich in eine andere Stadt, Camulodunum. Jetzt wurde er erneut in Thalius’ Wagen verfrachtet, um »zum Wall« gebracht zu werden, wie Tarcho sagte.
Tarcho versuchte ihm zu erklären, wohin die Reise ging; dazu zeichnete er mit Stöcken Karten in den Schmutz. Audax wusste nicht einmal, was eine Karte war, und Norden, Süden, Osten und Westen waren ihm einerlei.
Und er wollte Thalius’ Haus in Camulodunum nicht verlassen, wegen des Essens. Er war zusammen mit den Sklaven und Bediensteten in der Küche gespeist worden, und manchmal hatte Tarcho sich zu ihm gesellt. So gutes Essen hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht bekommen. Manchmal war es so viel, dass er keinen Hunger mehr hatte, so viel, dass er es nicht aufessen konnte . Tarcho versprach Audax, dass er nie mehr Hunger leiden müsse.
Aber ob er es verstand oder nicht, ob er mitkommen wollte oder nicht, ihm blieb natürlich nichts anderes übrig, als die Reise mitzumachen.
Und jetzt waren sie mit neuen Leuten unterwegs, und das stellte ein
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