Imperator
Sommer.
»Siebenundvierzig, siebenundvierzig …« Claudius ging zu seinem Schreibtisch zurück und sah mehrere Schriftrollen durch. »An irgendetwas erinnert mich das dunkel. Ist damals noch etwas anderes Wichtiges geschehen? Wir Römer haben eine Schwäche für gute Prophezeiungen, wisst ihr«, dozierte er, ohne die Gruppe der britannischen Rebellen und der angespannten Soldaten dabei anzuschauen. »Worin der Reiz liegt, ist klar. Wir Sterblichen tasten uns wie mit verbundenen Augen durch den Nebel der Ereignisse. Da wäre es doch wunderbar, wenn wir die Zukunft
deutlich sehen könnten – oder auch nur die Vergangenheit! Wir Römer haben unsere eigenen prophetischen Bücher …«
Eine Zauberin namens Sibylle hatte einem römischen König die Sibyllinischen Bücher geschenkt, die, wie sie behauptete, die gesamte Zukunft Roms voraussagten.
»Leider sind die Bücher vor über hundert Jahren einem Brand zum Opfer gefallen. Seither haben wir jedoch aus Heiligtümern in aller Welt eine Sammlung neuer Orakel zusammengetragen, die seit der Zeit des vergöttlichten Augustus im Apollo-Tempel auf dem Palatin untergebracht ist. Vielleicht wird dieses neue Orakel einen Platz in jener seltsamen Bibliothek finden – was meint ihr? …
Ah, da haben wir es.« Er zog eine Schriftrolle heraus, entrollte sie auf seinem Schreibtisch und fuhr mit dem Daumen auf ihrer Oberfläche entlang. »Ähm … diesem Kompendium zufolge war dein Geburtsjahr nicht weiter bemerkenswert, haariger Mann – bis auf eines: eine weitere Geburt, die eines gewissen Propheten in Judäa. Die Juden, du weißt schon, ein reizbares Volk! Der Schurke wurde während der Regentschaft meines Onkels Tiberius gekreuzigt, soweit ich mich erinnere, und zwar zu Recht. Sicherlich nur ein Zufall – aber wenn ich ein Gott wäre und eine Prophezeiung abfassen würde, wäre nichts daran zufällig.
Und was haben wir hier nun wirklich?« Er nahm das Pergament wieder zur Hand und spähte durch seine Gläser darauf hinab. »Ziemlich kurz, was?«
Agrippina sagte unwillkürlich: »Nur sechzehn Zeilen.«
Sie sah, wie Nectovelins Schultern sich versteiften. In diesem Augenblick wusste er genau, dass sie das Dokument gegen seinen ausdrücklichen Wunsch gelesen hatte. Wie immer die Sache heute ausgehen mochte, sie fürchtete, dass sie ihre Beziehung zu diesem Mann, der wie ein Vater für sie gewesen war, bereits zerstört hatte.
Claudius beobachtete das interessiert; die Britannier schienen ihn zu faszinieren. »Sechzehn Zeilen, ja. Du hast sie offenbar gelesen, Mädchen. Aber ich frage mich, wie gut du sie verstehst – wenn du deine Ausbildung nur in Gallien genossen hast, wahrscheinlich alles andere als gut. Da gibt es einige Feinheiten. Sieh an, da ist ja sogar ein Akrostichon.« Er hielt Agrippina das Pergament hin. »Schau, Mädchen, siehst du, dass die ersten Buchstaben der Zeilen, hintereinander gelesen, einen Sinn ergeben? A-C-O-N … Vielleicht ist das der Schlüssel zu dem Ganzen. Die ursprünglichen Sibyllinischen Bücher enthielten ähnliche Akrostichen, soweit ich mich erinnere. Eine faszinierende Verbindung.
Hier gibt es einige ganz besondere Vorhersagen, nicht wahr? Da ist die Rede von einem Kaiser mit germanischem Namen … und ich heiße Germanicus.« Er blickte abrupt zu Agrippina auf. »Interessant. Aber was hat es mit der steingewordnen Schlinge um den Hals der Insel auf sich?« Er warf Vespasian einen Blick zu. »Gibt es auf dieser Insel eine Landenge, Legat?«
»Niemand weiß es, Herr.«
»Und weiter geht’s, kryptisch und verwirrend – verblüffend, wie bei allen Orakeln dieser Art, sonst würden wir sie wohl nicht so hoch schätzen – ah, und am Ende ein paar Zeilen über Freiheit und Glück und so weiter. Unbeholfene Poesie, sonst nichts; es überrascht mich, dass die Götter es für richtig hielten, sie darin aufzunehmen.« Er wandte sich an Nectovelin. »Du, haariger Mann – kannst du das überhaupt lesen?« Claudius legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Da hast du also eine Prophezeiung aus dem Mund deiner eigenen Mutter und in der Sprache eurer Bezwinger – einer Sprache, die du weder verstehen noch lesen kannst! Ob die Götter die Zukunft nun kennen oder nicht, sie haben jedenfalls Sinn für Humor.«
»Ich brauche sie nicht zu lesen«, erwiderte Nectovelin. »Ich weiß, was darin steht: dass ihr Römer von dieser Insel vertrieben werdet. Und das werde ich mit Vergnügen tun.«
Claudius schien verblüfft zu sein.
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