Imperator
»Eigentlich steht dort nichts dergleichen.« Er wandte sich an Agrippina. »Glaubst du , dass dies prophetisch ist?«
»Ja«, gab Agrippinia zu.
»Und was bedeutet es?«
»Dass wir euch heute nicht besiegen können, glaube ich«, sagte sie leise.
»Was? Was? Sprich lauter, Mädchen!«
Sie holte tief Luft und war sich bewusst, welches Leid sie Nectovelin mit ihren nächsten Worten zufügen
würde, ob er nun am Leben blieb oder starb. »Wir können heute nicht siegen. Das besagt die Prophezeiung.«
Nectovelin grollte wie ein Stier. Vespasians Hand schloss sich fester um seinen Arm. Überall im Raum spannten sich die Soldaten an, und Narcissus erschauerte in Agrippinas Griff.
Claudius sagte leise: »Nun, in diesem Fall hängt es allein von dir ab, Agrippina, wie es nun weitergeht. Wenn du es mir erlaubst, werde ich euch verschonen. Nicht aus Mitleid, sondern weil ihr mich fasziniert, du und dein Geliebter.«
»Und wenn ich dir erlaube, mich am Leben zu lassen, wirst du dann auch Nectovelin verschonen?« Der Handel klang sogar in Agrippinas eigenen Ohren seltsam.
Nectovelin drehte sich zu Agrippina um. »Du hast mich heute schon einmal verraten, Kind. Tu das kein zweites Mal.«
Auch Vespasian war empört. »Herr, du kannst doch nicht darauf hören!«
Claudius ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Wie lustig, dass sowohl der Fänger als auch der Gefangene eine friedliche Lösung ablehnen!«
Irgendwie hatte Agrippina die Situation unter Kontrolle. »Lass Nectovelin gehen«, sagte sie. Und in ihrer eigenen Sprache sagte sie zu Nectovelin: »Es tut mir leid.«
»Entwaffnet ihn und werft ihn hinaus, Legat.«
»Herr …«
»Er ist bereits gebrochen. Er stellt keine Gefahr mehr für uns dar. Und nun müssen wir entscheiden, was wir mit euch zwei Kindern machen – aber zunächst einmal solltest du aufhören, meinem Sekretär diese unerwünschte Rasur zu verpassen.«
Nachdem Nectovelin hinausgeworfen worden war, ließ Agrippina Narcissus los. Er stolperte mit einem Ausdruck mörderischen Hasses weg von ihr, massierte seinen Hals und betastete die aufgeschnittene Wange.
Der freigelassene Cunedda kam zu Agrippina. »Wie konntest du Nectovelin das antun?«
»Ich habe ihm das Leben gerettet.«
»Aber er hat seine Ehre verloren. Und die Prophezeiung …«
»Er hat die Prophezeiung nie verstanden. Claudius hatte recht. Es gibt Zeiten, in denen es ein großer Vorteil ist, wenn man lesen kann. Die Prophezeiung spricht von drei Kaisern , Cunedda. Claudius ist nur der erste. Wir können ihn also nicht besiegen – nicht, wenn die Prophezeiung die Wahrheit sagt. Denn die Römer werden sehr, sehr lange hier sein.«
Er rieb sich den vom Griff eines Soldaten lädierten Oberarm. »Und Mandubracius?«
Sie zuckte zusammen. »Das habe ich nicht vergessen. Ich werde meinen Bruder rächen. Ich muss nur einen anderen Weg finden. Heute habe ich vor allem eines gelernt, Cunedda: Dieses Spiel wird lange dauern.«
Rufrius Pollio, der Befehlshaber der Prätorianergarde,
kam auf sie zu. Sein Schwert steckte in der Scheide, aber sein Blick war giftig – schließlich war er ja auch in beträchtlichen Schwierigkeiten, weil er zugelassen hatte, dass Attentäter so nah an den Kaiser herangekommen waren. »Zeit zu gehen«, sagte er auf Lateinisch.
»Kaiser …«, platzte Agrippina heraus.
Claudius drehte sich um.
»Ich muss glauben, dass die Prophezeiung wahr ist, denn ihre Vorhersagen sind eingetroffen. Aber es gibt da eine Kleinigkeit, die ich nicht verstehe.«
Claudius runzelte die Stirn. »Welche Kleinigkeit?«
»Dass du in Begleitung fremdartiger Tiere nach Britannien kämst – haushohe Pferde mit säbelgleichen Zähnen …«
Claudius starrte sie an. Dann wandte er sich an den Befehlshaber seiner Garde. »Öffne diesen Vorhang, Rufrius Pollio.«
Der Soldat gehorchte, und der Vorhang gab den Blick auf ein Rechteck des dunkelblauen Abendhimmels frei. Und vor dem Fenster sah Agrippina einen Schatten vorbeiziehen: massig, aber anmutig, ein riesiger, nickender Kopf. Vielleicht abgelenkt von dem Licht aus der Scheune, drehte sich der Kopf, und ein verblüffend menschliches Auge schaute sie an. Ein Rüssel hob sich, und Stoßzähne blitzten auf.
»Manche Dinge in eurem kleinen Gedicht sind gewiss nur naheliegende Vermutungen«, sagte Claudius in ernstem Ton. »Dass Rom unter dem einen oder anderen Kaiser hierher kommen würde, stand so gut
wie fest. Aber man fragt sich wirklich, wer außer den Göttern die da
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