Imperator
langweilen. »Weshalb redest du ständig über die tote Vergangenheit, Mutter?«
»Wegen der Prophezeiung«, sagte Severa. »Deshalb sind wir hier, nicht wahr, Brigonius?« Sie zog eine Ledertasche aus einer Falte ihrer Tunika. »Hier drin«, sagte sie mit leuchtenden Augen, »ist ein einzelnes Blatt – altmodisches Latein, auf ein Stück Pergament gekritzelt. Nur sechzehn Zeilen. Es ist die Prophezeiung , Brigonius. Die Prophezeiung, von der ich in meinem Brief gesprochen habe. Sie wurde bei der Geburt eines Mannes namens Nectovelin niedergeschrieben, eines Vetters meiner Großmutter, Agrippina.«
Sie erzählte ihm etwas über die Geschichte der Prophezeiung: dass Agrippina und Cunedda in Claudius’ Haus eingedrungen waren, dass sich ein Teil der Vorhersage auf verblüffende Weise bewahrheitet hatte – und dass Claudius das Dokument anschließend konfisziert und zu den Sibyllinischen Orakeln gelegt hatte. »Meine Großmutter ist nach Rom gezogen und hat
viele Jahre lang versucht, das Dokument wiederzubekommen. Es ist ihr nicht gelungen – und meiner Mutter ebenso wenig –, aber ich habe schließlich die richtige Person gefunden, die man bestechen musste.«
»Ts, ts«, machte Lepidina. »Du tadelst mich, dass ich mit einem Stück Silber am Hals das Gesetz breche, und plünderst selbst die Gruft der Sibyllinischen Orakel! Du bist eine Heuchlerin, Claudia Severa.«
»Aber was ist das für eine Prophezeiung?«, fragte Brigonius.
»Es ist nicht weniger als eine Skizze der Zukunft – der Zukunft der Römer und der Zukunft Britanniens unter ihrer Herrschaft.«
»Der Zukunft?« Brigonius versuchte, im Kopf zurückzurechnen. »Aber sie muss schon über hundert Jahre alt sein.«
»Hundertsechsundzwanzig«, sagte Lepidina munter. Sie strich mit den Fingern über den Fisch an ihrem Hals. »Sie wurde im selben Jahr niedergeschrieben, als Jesus von Judäa zur Welt kam.«
»Wer?«
»Ach, der Held irgendso eines Mysterienkults aus dem Osten«, fauchte Severa, »ein neuer Fimmel meiner Tochter und anderer törichter Kinder in Rom.«
Brigonius grinste. »Wenn die Prophezeiung so alt ist, sind wir schon in der Zukunft!«
Severa nickte ernst. »Genau darum geht es. Die Prophezeiung hat bereits wahr zu werden begonnen , Brigonius. Die Prophezeiung ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Dokument – und durch
sie sind unsere Familien über Generationen hinweg vereint.«
Brigonius runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht recht, was du von mir willst, Severa.«
»Hör dir an, was darin steht.« Und sie las ihm drei Zeilen aus der Prophezeiung vor:
»Turbulente Himmel verkünden die Ankunft von Roms großem Sohn;
Auch wird man ihn als kleinen Griechen kennen. Und während Gott als Kind geboren wird,
Rammt römische Gewalt der Insel Hals in eine steingewordne Schlinge …«
Brigonius hörte aufmerksam zu. »Was bedeutet das?«
»Na, das ist doch ziemlich klar. Das Imperium ist riesengroß geworden, Brigonius, und hinter seinen langen, instabilen Grenzen schweifen Barbaren ruhelos umher. Dem neuen Kaiser ist daran gelegen, diese Grenzen zu befestigen. Er ist nach Germanien gereist, wo er lange Wälle aus Grassoden baut. Jetzt ist er hier in Britannien, wo er sich um die nördliche Grenze kümmern wird. Er hat vor, einen weiteren Wall quer durch Britannien zu ziehen – im Norden, wo, wie ich gehört habe, zwei Flussmündungen aufeinander zulaufen und die Insel verschmälern. Verstehst du? Nach allem, was ich weiß, soll auch dieser Wall aus Grassoden bestehen, so wie die germanische Grenze. Aber einige meiner Teilhaber würden den Kaiser gern dazu bewegen, ihn aus Stein zu bauen.«
»Aus Stein?« Brigonius war verwirrt. »Quer durchs ganze Land? Dazu sind wohl nicht einmal die Römer imstande, oder?«
»Oh, die sind zu vielem imstande, wenn sie eine Aufgabe gemeinsam anpacken. Und wenn wir Hadrian tatsächlich überreden können, mit Stein zu bauen, wird jemand vor Ort ihm diesen Stein liefern müssen.« Sie musterte ihn. »Dabei werden hübsche Gewinne herausspringen, Steinbrecher Brigonius.«
»Aber woher willst du wissen , dass der Kaiser überhaupt einen Wall bauen will, obendrein auch noch aus Stein statt aus Grassoden?«
Sie klopfte auf die Ledertasche. »Weil die Prophezeiung es sagt. ›Eine steingewordne Schlinge‹ – was könnte das sonst bedeuten?«
Lepidina schien skeptisch zu sein. »Ja, aber was hat es mit dem ›kleinen Griechen‹ und ›Gott als Kind‹ auf
Weitere Kostenlose Bücher