Imperator
Sinn und Zweck der Reise bestand schließlich darin, dass die Menschen Hadrian sahen. Es würde Aufenthalte
in der neuen Stadt Londinium und anderswo geben, damit die wohlhabenderen Bürger der Städte, die in dieser stark militarisierten Provinz bereits eine schwere Steuerlast trugen, den Eindruck gewannen, dass sie für die enormen Kosten dieses Besuchs eine entsprechende Gegenleistung bekamen.
Statt zu warten, entschied Severa, dass sie, ihre Tochter und Brigonius schon vorausreisen würden. Wenn sie frühzeitig in Camulodunum eintrafen, hatten sie mehr Zeit, sich auf die Audienz vorzubereiten.
Auf dem Weg nach Süden war Brigonius schnell und mit leichtem Gepäck gereist. Er war die ganze Strecke geritten und hatte seine Pferde bei Gasthäusern an der Straße gewechselt – mansiones , wie sie genannt wurden, Stationen, die in erster Linie für offizielle Meldereiter und den cursus publicus gedacht waren, den schnellen Postdienst. Aber er hatte nicht in den Gasthäusern übernachtet, sondern in einem Lederzelt aus römischen Armeebeständen, das er in Vindolanda gekauft hatte. Er mochte Städte nicht; er hatte mit dem größten Vergnügen auf Feldern geschlafen, mit seinem eigenen kleinen Feuer und seinem angebundenen Pferd in der Nähe. Billiger war es außerdem.
Die Rückfahrt mit zwei römischen Damen war etwas ganz anderes. Sie hatten keineswegs die Absicht, auf einem Feld zu nächtigen; die Frage stellte sich gar nicht erst. Severa bezahlte viel Geld, um eine neue Kutsche, Sklaven und Pferde zu mieten. Gewappnet mit einer schematischen Karte der Provinz, plante sie sodann
eine Reiseroute. Von Rutupiae aus würden sie westwärts durch Durovernum und am Südufer der Tamesis-Mündung entlangfahren – angeblich die Route, die einst auch Claudius’ Eroberungsarmee genommen hatte –, dann über kleinere Straßen nach Londinium. Dort würden sie den Fluss auf der neuen Holzbrücke der Römer überqueren und den Weg nach Norden einschlagen.
Wie es sich ergab, führte diese Route durch die Gebiete mehrerer britannischer Volksstämme, darunter auch das von Brigonius’ Vorfahren, den Catuvellaunen. Auf Severas Karte, die nur die neuen Städte und Straßen der Römer sowie die Flüsse mit ihren neuen lateinischen Namen zeigte, waren sie jedoch nicht eingezeichnet.
Und so brachen sie auf. Sie rollten durch friedliches Ackerland. Hecken oder Steinmauern markierten die Felder, auf denen an diesem Sommertag Weizen oder Gerste wuchs. Abseits der Städte waren die Gebäude meist strohgedeckte Rundhäuser; hier und dort kräuselte sich Rauch in den Himmel.
Von Anfang an war es eine unangenehme Reise. Lepidina und ihre Mutter hatten bereits den weiten Weg von Rom hierher zurückgelegt und machten keinen Hehl daraus, dass ihnen das Unterwegssein zum Hals heraushing. Brigonius hatte gehofft, er könnte die Fahrt zumindest nutzen, um Lepidina ein wenig besser kennenzulernen. An den ersten ein, zwei Tagen scherzte sie auch ein wenig mit ihm, langweilte sich dann jedoch bald und zog sich in den hinteren Teil der
Kutsche zurück, wo sie sich, eingekuschelt zwischen Kleiderbündeln, in Gedichtbücher vertiefte.
Sie zeigte Brigonius die Bücher. Es waren auf Papyrusrollen geschriebene Gedichte eines gewissen Ovid. Brigonius fiel es schwer, sie zu lesen; sein Latein war nicht so gut, dass er all die Anspielungen und Wortspielereien erkannt hätte. Aber die Gedichte waren gewagtes Zeug, und sie brachten ihn in Verlegenheit.
Severa zog ihn gnadenlos auf. »Du bist wie alle jungen Leute. Bildest du dir etwa ein, deine Generation hätte den Sex erfunden? …«
Aber diese Phasen heiterer Neckerei waren nur kurze Momente im Verlauf dieser ziemlich tristen Reise.
Jedenfalls lernte Brigonius unterwegs nicht Lepidina besser kennen, sondern ihre Mutter, mit der er die langen Stunden im vorderen Teil der Kutsche verbrachte. An Severas Seite sah er sein eigenes Land mit ihren schärferen Augen.
Achtzig Jahre nach Claudius war Britannia in zwei deutlich unterscheidbare Teile gespalten. Der Süden und Osten waren befriedet; dort bildete sich eine auf den neuen Städten basierende bürgerliche Regierung heraus. Aber der Norden und Westen blieben im Wesentlichen unter militärischer Kontrolle. Folglich war Brigonius unter einer Besatzungsmacht aufgewachsen. Die Römer hatten sogar verschiedene Namen für die beiden Bevölkerungen, die Britanni des Südens und die Brittones des Nordens.
»Du fühlst dich unwohl in diesem Land, nicht
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