Imperium
Lubji fragte sich noch, wie es den Deutschen gelungen war, ihn so schnell zu erreichen. Wäre er nicht bewußtlos geworden, hätte er es herausgefunden.
Als Lubji zu sich kam, hatte er keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war. In der undurchdringlichen Dunkelheit, in der er sich befand, konnte er nur vermuten, daß er wieder in seiner Zelle war und daß ihm die Hinrichtung bevorstand. Dann spürte er den furchtbaren Schmerz in der Schulter. Er versuchte, sich auf den Handflächen hochzustemmen, doch es war unmöglich. Er bewegte die Finger und stellte erstaunt fest, daß er keine Handschellen mehr trug.
Er blinzelte und versuchte etwas zu sagen, doch nur ein Wispern entrang sich seiner Kehle. Wahrscheinlich hörte er sich wie ein verwundetes Tier an. Wieder versuchte er 110
mühsam, sich aufzurichten, doch auch diesmal gelang es ihm nicht. Er blinzelte noch einmal, denn er konnte nicht glauben, was er da vor sich sah. Neben ihm kniete ein junges Mädchen und wischte mit einem feuchten Lappen über die Stirn. Lubji redete in verschiedenen Sprachen zu ihr, doch sie schüttelte nur den Kopf. Als sie schließlich etwas sagte, redete sie in einer Sprache, die Lubji nie zuvor gehört hatte. Dann lächelte sie, deutete auf sich und sagte schlicht: »Mari.«
Lubji schlief ein. Als er erwachte, schien ihm die Morgensonne in die Augen, und diesmal gelang es ihm, wenigstens den Kopf zu heben. Offenbar befand er sich auf einer
Waldlichtung. Er sah einen Kreis hoch beladener bunter Wagen und Pferde, die im Schatten der Bäume grasten. Als er sich in die andere Richtung wandte, blieb sein Blick auf einem Mädchen haften, das sich wenige Schritt entfernt mit einem Mann unterhielt, der ein Gewehr trug. Jetzt erst wurde Lubji bewußt, wie schön sie war.
Als er rief, drehten beide sich um. Der Mann eilte sofort zu Lubji und begrüßte ihn in seiner Sprache. »Ich bin Rudi«, stellte er sich vor; dann berichtete er, wie er und seine Gruppe vor einigen Monaten über die tschechische Grenze geflohen waren – nur um feststellen zu müssen, daß die Deutschen auch in diesem Land hinter ihnen her waren. Ständig mußten sie weiterziehen, erzählte Rudi, da die Herrenrasse Zigeuner wie ihn noch geringer achtete als Juden.
Lubji bombardierte ihn mit Fragen. »Wer seid ihr? Wo bin ich?« Und, am wichtigsten: »Wo sind die Deutschen?« Er hielt erst inne, als Mari – Rudis Schwester, wie sich herausstellte –
mit einer Schale voll heißer Flüssigkeit und einem dicken Stück Brot zu ihm kam. Sie kniete sich neben ihn, flößte ihm den dünnen Haferschleim ein und fütterte ihn mit Brot, während ihr Bruder erzählte, wie Lubji zu ihnen gekommen war. Rudi hatte die Schüsse gehört und sich zum Rand des Wäldchens geschlichen; denn er hatte befürchtet, von den 111
Deutschen entdeckt worden zu sein. Doch es waren die
entflohenen Gefangenen gewesen, auf die Jagd gemacht
worden war. Nur einem von ihnen gelang es, nahe genug an das Zigeunerlager zu kommen, daß er schwerverwundet
gerettet werden konnte: Lubji. Die anderen waren allesamt erschossen worden.
Die Deutschen hatten Lubji nicht weiter verfolgt, als sie beobachtet hatten, wie er in den Wald geschleppt worden war.
»Vielleicht haben sie Angst bekommen, weil sie nicht wußten, mit wem sie’s zu tun hatten.« Rudi lachte. »Dabei besitzen wir bloß zwei Gewehre, eine Pistole und einige provisorische Waffen, von der Mistgabel bis zum Fischmesser. Wahrscheinlich haben die Deutschen befürchtet, daß auch die anderen Gefangenen entkommen würden, wenn sie dir folgten. Tja, da hab’ ich das Lager abbrechen lassen und Befehl gegeben, weiterzuziehen, sobald die Kugel aus deiner Schulter geschnitten war. Denn ich war mir sicher, daß die bei Sonnenaufgang mit einem größeren Trupp wieder zu dem Waldstück
kommen.«
»Wie kann ich euch je danken?« murmelte Lubji.
Als Mari ihn zu Ende gefüttert hatte, hoben zwei Zigeuner ihn behutsam auf einen Wagen, und der kleine Zug setzte seinen Weg fort. Es ging tiefer in den Wald hinein. Immer weiter entfernten sie sich von der Stelle, wo auf die Gefangenen geschossen worden war. Sie mieden Ortschaften, ja, sogar Straßen. Mari pflegte Lubji Tag für Tag, bis er sich schließlich aufsetzen konnte. Sie war erfreut, daß er so schnell ihre Sprache lernte. Als sie eines Abends mit dem Essen zu ihm kam, sagte er in fließendem Romani, sie sei die schönste Frau, die er je gesehen habe. Mari errötete, rannte fort und kam erst mit dem
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