Imperium
mein lieber Tiro!« Mir gelang es gerade noch, ihm seinen Nachttopf unters Kinn zu halten, bevor er sich übergab. Mit herunterhängendem Kopf sprach er in sein Erbrochenes. »Wir gehen nach Athen, mein Freund, ziehen zu Atticus und studieren Philosophie. Kein Mensch wird uns hier vermissen …« Die letzten Worte gingen in einem langen selbstmitleidigen Plappern aus vernuschelten Silben und zischenden Konsonanten unter, die ich mit keinem meiner Kurzschriftzeichen hätte wiedergeben können. Ich stellte den Topf neben das Bett, blies die Lampe aus, und noch bevor ich die Tür erreichte, hörte ich ihn schon schnarchen. Ich gestehe, dass ich mir Sorgen um ihn machte, als ich mich an jenem Abend schlafen legte.
Am nächsten Tag jedoch wurde ich wie üblich kurz vor Sonnenaufgang von den Geräuschen seiner Morgenübungen geweckt. Er bewegte sich vielleicht etwas langsamer als sonst, aber schließlich war es Hochsommer und furchtbar früh, und er hatte gerade mal ein paar Stunden geschlafen. Aber so war er: Fehlschläge befeuerten seinen Ehrgeiz. Nach jeder erlittenen Demütigung erlosch vorübergehend das Feuer in ihm, um dann umso heftiger wieder aufzulodern - ob in seinen frühen Tagen als Anwalt, wenn ihn sein Körper im Stich gelassen hatte, ob nach seiner Rückkehr aus Sizilien oder jetzt nach Pompeius ' rüder Abfuhr. »Ausdauer ist alles«, pflegte er zu sagen. »Mit Genialität kommt man nicht nach oben. Rom ist voll von verkannten Genies. Nur mit Ausdauer kommt man in dieser Welt vorwärts.« Ich hörte, wie er sich für einen weiteren Tag des Kampfes im römischen Senat vorbereitete, und spürte, wie sich der alte, vertraute Rhythmus im Haus wieder einstellte. Ich zog mich an, entzündete die Lampen, wies den Türwächter an, die Haustür zu öffnen, kontrollierte die Besucher. Dann ging ich in Ciceros Arbeitszimmer und übergab ihm die Namensliste. Weder da noch zu einem späteren Zeitpunkt fiel jemals wieder ein Wort über die Ereignisse vom Abend zuvor, und ich nehme an, dass uns das einander näherbrachte. Sicher, er sah ein bisschen grünlich aus und musste, als er die Namen durchging, die Augen zusammenkneifen, aber ansonsten machte er einen vollkommen normalen Eindruck. »Sthenius!«, stöhnte er auf, als er den Namen des Siziliers entdeckte, der sich wie üblich unter den Wartenden im Tablinum befand. »Mögen die Götter uns gnädig sein!«
»Er ist nicht allein«, warnte ich ihn. »Er hat noch zwei Landsleute mitgebracht.«
»Du meinst, jetzt vermehrt er sich schon?« Hustend räusperte er sich. »Also los, dann. Schick ihn als Ersten rein, damit wir ihn endlich ein für alle Mal loswerden.«
Wie in einem immer wiederkehrenden Traum, aus dem man nie erwacht, führte ich Sthenius aus Thermae einmal mehr in Ciceros Arbeitszimmer. Seine Begleiter stellte er als Heraclius aus Syrakus und Epicrates aus Bidis vor. Es waren alte Männer, die wie Sthenius im dunklen Trauergewand und mit ungepflegten Haaren und Bärten erschienen.
»Ein für alle Mal, Sthenius«, sagte Cicero mit entschlossener Stimme, nachdem er dem grimmig dreinblickenden Trio die Hand geschüttelt hatte. »Das muss jetzt ein Ende haben.«
Aber Sthenius lebte schon in jenem fremdartigen, weit entfernten Königreich des obsessiv Prozessführenden, in das Geräusche von außen nur noch selten eindringen. »Vielen Dank, dass du mich empfängst, Senator. Ich bin jetzt im Besitz der Gerichtsakten aus Syrakus, sodass du dich selbst davon überzeugen kannst, was dieses Monster mir angetan hat.« Er zog ein Stück Papier aus seiner Ledertasche und drückte es Cicero in die Hand. »Das ist das Schriftstück, das vor dem Urteil der Volkstribunen ausgefertigt wurde. Und das hier«, sagte er und zog ein zweites Papier aus der Tasche, »ist das Schriftstück, das danach verfasst wurde.«
Seufzend hielt Cicero die beiden Dokumente nebeneinander und überflog sie mit zusammengekniffenen Augen. »Und, was soll das? Das ist das offizielle Urteil aus deinem Verratsprozess. Hier steht, dass du während der Verhandlung anwesend warst. Wir wissen beide, dass das Unsinn ist. Und das hier …« Er sprach jetzt langsamer, weil ihm allmählich dämmerte, was das, was er da las, eigentlich bedeutete. »Und das hier stellt fest, dass du nicht anwesend warst.« Er hob den Kopf, und seine verhangenen Augen begannen sich aufzuklaren. »Verres hat also seine eigenen Prozessakten gefälscht, und dann hat er seine eigene Fälschung noch mal
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