Imperium
er auf die Genugtuung, den Beginn des Prozesses mitzuerleben, verzichtet und einen Umweg über Puteoli gemacht hatte, um noch zwei weitere Zeugen aufzuspüren: den römischen Ritter Gaius Numitorius, der die Kreuzigung von Gavius aus Messana gesehen hatte, und seinen Freund, den Kaufmann Marcus Annius, der in Syrakus gewesen war, als Verres den Justizmord an dem römischen Bankier Herennius hatte vollstrecken lassen.
»Und wo sind die beiden jetzt?«, fragte Cicero ungeduldig.
»Hier«, antwortete Lucius. »Im Tablinum. Aber ich muss dich gleich warnen. Sie wollen nicht aussagen.«
Cicero eilte ins Tablinum und sah sich zwei stattlichen Männern mittleren Alters gegenüber - »für meine Zwecke die perfekten Zeugen«, wie er später bemerkte. »Wohlhabend, seriös, sachlich und - das vor allem - keine Sizilier.« Wie Lucius ihm prophezeit hatte, sträubten sie sich auszusagen. Sie waren Geschäftsleute, die an mächtigen Feinden kein Interesse hatten und von der Aussicht auf Hauptrollen in Ciceros antiaristokratischem Schauspiel auf dem römischen Forum alles andere als begeistert waren. Aber er konnte sie schließlich überzeugen, denn sie waren schlau genug zu erkennen, dass bei einer Gewinn-und-Verlust-Rechnung unter dem Strich am meisten herausspringen würde, wenn sie sich auf die Seite der Sieger schlügen. »Wisst ihr, was Pompeius zu Sulla gesagt hat, als der alte Mann ihm an seinem sechsundzwanzigsten Geburtstag einen Triumph abschlagen wollte?«, fragte Cicero. »Das hat er mir erst gestern Abend beim Essen erzählt: ›Die meisten Menschen huldigen der aufgehenden, nicht der untergehenden Sonne.‹« Die Mischung aus prominenten Namen und Appellen an Patriotismus wie Eigennutz wirkte und stimmte sie schließlich um. Als es Zeit zum gemeinsamen Abendessen mit Cicero und seiner Familie war, hatten sie ihm ihre Unterstützung zugesichert.
»Ich wusste, wenn du sie nur ein paar Minuten in die Finger bekommst, dann tun sie, was du willst«, flüsterte Lucius ihm zu.
Ich hatte damit gerechnet, dass Cicero sie gleich am nächsten Tag in den Zeugenstand rufen würde, aber er machte es raffinierter. »Eine Vorstellung muss immer mit einem Höhepunkt enden«, sagte er. Inzwischen hatte er den Zorn der Zuschauer mit jedem neuen Anklagepunkt zu neuen Höhen geführt - von korrupter Rechtsprechung über Erpressung und offenen Raub bis hin zu grausamen und unüblichen Methoden der Bestrafung. Am achten Verhandlungstag beschäftigte er sich mit den Aussagen zweier sizilischer Kapitäne, Phalacrus aus Centuripa und Onasus aus Segesta, die schilderten, wie sie und ihre Mannschaften nur durch Bestechung von Verres ' Freigelassenem Timarchides der Auspeitschung und Hinrichtung entgingen. (Timarchides war, wie ich zu meiner Genugtuung sagen kann, im Gericht anwesend und musste die Demütigung persönlich miterleben.) Schlimmer noch: Den Familien derer, die nicht die finanziellen Mittel hatten, ihre Verwandten freizukaufen, wurde gesagt, dass sie dem amtlichen Scharfrichter Sextius trotzdem Geld zu zahlen hätten, um zu verhindern, dass dieser bei den Enthauptungen absichtlich grausam vorginge. »Stellt euch die unerträgliche Seelenpein der unglückseligen Eltern vor«, erklärte Cicero, »die nicht für das Überleben ihrer Kinder, sondern für deren schnellen Tod zu zahlen hatten.« Als die Senatoren auf der Geschworenenbank das hörten, schüttelten sie den Kopf und sprachen leise miteinander. Und wenn Glabrio Hortensius aufforderte, einen der Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen, und dieser nur ein ums andere Mal sagte: »Keine Fragen an den Zeugen«, stöhnten sie hörbar auf. Ihre Lage wurde zunehmend unerträglicher, und an jenem Abend gingen zum ersten Mal Gerüchte um, dass Verres schon dabei sei, seinen Hausstand zusammenzupacken und sich auf seine Flucht ins Exil vorzubereiten.
So standen die Dinge, als wir am neunten Prozesstag Annius und Numitorius als Zeugen aufriefen. Wenn das überhaupt möglich war, so war die Zuschauermenge an diesem Morgen, da nur noch zwei Tage bis zum Beginn von Pompeius ' Spielen blieben, noch größer als sonst. Verres kam zu spät und war offensichtlich betrunken. Er stolperte, als er die Stufen vor dem Tempel zu seinem Platz hinaufging. Hortensius musste ihn stützen, während das Publikum in Gelächter ausbrach. Als er an Cicero vorbeiging, schaute er ihn an. In den roten Augen des geschlagenen Mannes standen Angst und Wut, es war der Blick eines gejagten, in die Enge getriebenen
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