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In allertiefster Wälder Nacht

In allertiefster Wälder Nacht

Titel: In allertiefster Wälder Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy McNamara
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mache kehrt, nehme die Straße, komme an meinem Rad vorbei, das an einem Baum lehnt.
    Stopp. Zurück.
    Wie habe ich es hier so lange stehen lassen können? Jedes Mal, wenn er dran vorbeifährt, muss er sich schrecklich fühlen. Ich lauf rüber. Die glasartige Schneekruste knackt und gibt bei jedem Schritt mit einem hohlen Rülpser nach. Ratscht die Haut von meinen Knöcheln. Aber ich muss was damit machen. Muss dieses Rad da wegholen. Jetzt gleich.
    Ich packe den Lenker und reiße das Rad aus der eisigen Umarmung des Baumes. Zerre es hinter mir her die Straße entlang. Ich weiß, was ich mache. Ich sehe es vor mir, hell und klar. Das Rad ist eisverkrustet und wiegt eine Tonne, verhakt sich immer wieder an meiner Hacke, an meiner Wade, knallt von hinten an meine Beine. Meine Arme brennen. Macht alles nichts. Ein kleiner Preis für das, was ich getan habe, was ich bin. Als ich Cals Haus erreiche, steuere ich die den Klippen zugewandte Seite an, das blöde Rad klappert bei jedem Schritt hinter mir her.
    Vor mir erstreckt sich das Meer, glitzert in der Sonne. Ich bin erledigt, keuche … wie ein Hund in den letzten Zügen. Ich lege mich kurz in den Schnee am Abgrund, um wieder zu Atem zu kommen. Ohne zu überlegen mache ich einen Schneeengel. An Schneeengel habe ich seit … Ewigkeiten nicht mehr gedacht. Ich mache ihn mit der Konzentration einer Achtjährigen, bis mein Herz sich beruhigt und ich aufhöre zu keuchen.
    Irgendwas muss schön sein.
    Die Kälte dringt durch meine nassen Klamotten. So vorsichtig wie möglich stehe ich auf und trete zurück – ich will meinen Engel schützen –, dann packe ich mein Rad und zerre es an den Abgrund.
    Ich rezitiere Larkins »Aubade«. Ich muss das Ende laut hören. Denn weiter geht’s nicht von alleine. Tief atme ich durch. Mit all meiner Kraft renne ich auf den Abgrund zu, brülle, so laut ich kann, und schleudere das kaputte Fahrrad hinab. Meine Stimme klingt seltsam. Wie die einer Todesfee. Das Rad fällt und kracht und fällt. Gelb vor Grau. Eine Weile wird es von den Wellen gehoben, gegen die Felsen geschleudert und dann sehe ich es nicht mehr.

Danke, Mary
    Um neun öffne ich die Bibliothek. Es ist früh und ich bin finsterer Stimmung. Ich glaub, diesen Job haben sie nur erfunden, um mich aus dem Bett zu kriegen. Lucy kommt eine Stunde später, manchmal mit Kaffee. Wir sind ganz entspannt miteinander. Wenn sie Ansichten über mich hat, zeigt sie es nicht. Es herrscht kein Druck zu reden. Ich stelle Bücher zurück in die Regale und fertige seltene Kunden ab. Wir stellen spezielle Auslieferungen zusammen. Das gehört nicht zum normalen Service der Bibliothek, sondern ist etwas, das Lucy für Leute tut, die nicht selber kommen können. Hauptsächlich alte Leute, gelegentlich Mütter, bei denen es von Kindern wimmelt. Lucy ist ihr eigenes Büchermobil, sagt, sie habe mich eingestellt, damit sie die Bibliothek nicht schließen müsse, solange sie weg sei. Nicht, dass es irgendjemandem auffallen würde, aber ich glaube, im Prinzip ist offen bleiben das Ziel.
    Wenn Lucy unterwegs ist, lese ich. Eines Morgens finde ich ein Buch über Karthäuser Nonnen auf dem Tisch, an dem ich normalerweise sitze. Mir ist durchaus bekannt, dass das ein Orden ist, der ein Schweigegelübde ablegt. Ehe ich das Buch wieder zurückstelle, schlage ich es auf und entdecke ihren Wahlspruch. Mein Latein war nie besonders gut, aber es ist so was wie: Steh fest, während die Welt sich dreht .
    Ich spreche nach wie vor nicht, doch das gibt mir nicht mehr dieses ruhige, entrückte Gefühl, das ich früher hatte. Und ich rufe Cal nicht an. Ich bin ein Feigling. Ich will wissen, wie es ihm geht, kann mich aber nicht dazu überwinden, das Telefon in die Hand zu nehmen.
    Dad ist wieder in Berlin zu einer Vernissage in seiner neuen Galerie. Er hat Mary gebeten, zu mir zu ziehen, solange er weg ist. Eine Babysitterin. Wie nett. Er sagt, ich soll mit ihnen zum Flughafen fahren, Mary bei der Rückfahrt Gesellschaft leisten. Darüber muss ich fast lachen, ich bin ja auch richtig gute Gesellschaft. Er ist so plump.
    Marys verbeultes Auto braucht ewig, bis es warm wird. Die Luft ist so kalt und schneidend, dass ich husten muss. Ich ziehe mir meinen Parka übers Gesicht und schlafe nahezu umgehend auf dem Rücksitz ein. Die Fahrt dauert nicht lange. Als ich aufwache, fahren wir schon an den niedrigen kleinen Gebäuden vorbei, die sich wie arme Verwandte um den Flughafen herumscharen. Deprimierend. Ich lass mich von

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