In allertiefster Wälder Nacht
du zurzeit in einer prekären Lage bist … Ich will, dass du mit jemandem redest. Geh zu jemandem. Wenn du noch eine Weile hierbleiben willst.«
Sie will es nicht aussprechen, schaut auf ihren Wein, glättet ihre bereits perfekte Frisur.
Wenn sie es nicht sagt, tu ich es.
»Du hältst Cal für einen Schritt in die falsche Richtung, und du willst, dass ich zu einem Seelenklempner gehe.«
Ich spieße einen Spargel auf.
»Du kannst Amherst nicht einfach den Rücken kehren, nachdem du so hart dafür gearbeitet hast, dort angenommen zu werden.« Wie eine müde Schlange zischt es aus ihr heraus, dieses alte Argument. Meine überwältigende Zukunft wird zurückgeholt aus der Versenkung – und jetzt hält sie Cal für den Schurken.
»Mom. Was Cal angeht, musst du dir keine Sorgen machen«, sage ich und schließe die Augen. »Das kam und ging.« Ich versuche, regelmäßig zu atmen und mein Herz aus diesem schmerzhaften Trott zu ziehen.
Ohne Kommentar nimmt sie diese Information auf und treibt ihre Mission voran.
»Sogar Kunsthochschulen, falls du vorhaben solltest dorthin zu gehen … ich hab mit den Leuten von der RISD geredet, dein Dad und ich haben das gemacht … die hätten dich Ende dieses Monats aufnehmen können. Sie würden dich nächsten September nehmen, wenn du willst. Wir müssen sie nur über unsere Pläne informieren.« Sie seufzt. »Ich werde nicht auf Amherst bestehen, wenn du dir sicher bist, ganz sicher, dass es nicht das Richtige für dich ist. Obwohl ich der Meinung bin, es wäre besser, wenn du dir eine solide geisteswissenschaftliche Grundlage verschaffst, bevor du andere …«
Ich unterbreche sie.
»Mom.«
Sie ignoriert mich.
»Wren, es ist zu früh für dich, Wurzeln zu schlagen …«
Wie absurd ist das denn? Ich pruste, verschlucke mich fast am Heilbutt.
»Du musst ein bisschen vorausschauend planen.«
Vorausschauend. Lächerlich.
»Du kannst nicht den ganzen Tag lang nur in die Luft gucken. Das ist nicht gesund. Es gibt eine Zeit zum Trauern, aber jetzt muss du drüber hinwegkommen.«
Es ist schrecklich, wenn man weiß, dass man seiner Mutter Angst macht. Wären wir nicht an einem öffentlichen Ort, würde ich jetzt den Kopf auf den Tisch legen. Ich kann mir kaum vorstellen, wie ich diesen Abend überstehen soll, und erst recht nicht, wie ich irgendwas langfristig planen soll. Vorausschauend. Ich will einfach allein sein. Mir diesen ruhigen Ort im Inneren neu erschaffen, den ich besaß, bis ich Cal begegnet bin.
»… oder wir suchen einen Job für dich«, sagt sie. »Einen richtigen. Eine Lehrstelle irgendwo. Hier oben, wenn du drauf bestehst. Was Interessantes. Etwas mit einem Ziel, einer Herausforderung für dich.«
Dieser Raum ist stickig. Ich sauge die ganze feuchte, verbrauchte Luft ein, die alle ausstoßen. Die Dampftröpfchen an den Scheiben ekeln mich an. Früher war ich mal ein normales Mädchen. Sie fehlt mir.
»… so faul herumsitzen.«
Sie redet immer noch.
»Vielleicht hält dich das davon ab, nach vorne zu schauen.«
Sie hält mir die Hand hin. Wenn sie mich berührt, fange ich an zu weinen. Ich lasse meine Hände auf dem Schoß. Sie guckt resigniert.
»Das sollte die beste Zeit deines Lebens sein, Wren.«
Meine Güte, ist sie den Tränen nahe? Jetzt sterbe ich.
»Deine Freunde haben sich weiterentwickelt, sie werden erwachsen. Du kannst das nicht einfach aussitzen.«
Weiterentwickelt.
»Patrick hat sich nicht weiterentwickelt, Mom«, sage ich. Plötzlich bin ich wütend. Ich greife über den Tisch und leere ihr Glas mit einem Schluck. Das erschreckt sie.
»Ja, gut.« Seufzen. »Das tut mir furchtbar leid. Daran ist nichts zu ändern.«
Sie meidet meinen Blick. Als ob wir über etwas reden würden, das besser ungesagt bliebe. Das muss aufhören. Dieses Gespräch muss aufhören. Ich werde sie gewinnen lassen müssen. So läuft das nämlich. Ich geb nach, nur damit das Gespräch beendet ist.
Sie tätschelt meine Hand … die neben ihrem leeren Weinglas liegt. Erwischt.
»Aber du kannst es, du kannst weitergehen.«
Und da ist es. Ihr Finale.
Ich schließe die Augen. Sie glaubt, ich bräuchte eine Herausforderung. Wenn sie nur wüsste.
Sie langt in die Handtasche und holt einen Umschlag heraus. Ihr schweres Briefpapier. Schiebt ihn über den Tisch.
»Ich habe ein wenig recherchiert. Um Empfehlungen gebeten. Da drinnen findest du den Namen eines Psychiaters von der Universität. Dr. Lang. Er hat einen guten Ruf. Nächste Woche hast du einen Termin bei
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