In besten Kreisen
Dublin, die sich alle in verschiedenen Stadien physischer und geistiger Paralyse befinden.« Lina dachte an die letzte Story in ›Dubliner‹, ›Die Toten‹, an Gabriel Conroys Verlangen nach seiner Frau und an Michael Fury, der gestorben war, weil er im Regen gestanden hatte, gestorben war, weil er liebte. Sie dachte an Bloom am Strand von Sandymount im ›Ulysses‹, wie er von der Liebe träumte, und an das verkrüppelte Mädchen, das von der Liebe träumte. Oh, Gott.
»Es sieht bestimmt von hier aus so aus wie achtzig«, sagte Grace.
»Professor Knole«, fragte Lina. »Ist Ihnen jemals aufgefallen, wie sehr Dinge, die Ihnen gerade im Kopf herumgehen, sich auch immer in Ihre Gespräche schleichen oder Ihnen aus Büchern entgegenspringen? Ich glaube, das geht hungrigen Kriegsgefangenen im Lager so und Leuten, die gerade das Rauchen aufgegeben haben.« »Und beim Thema Sex«, sagte Grace, den Blick auf den Tachometer gerichtet. »Ja, das ist mir oft aufgefallen. Natürlich ist das Jahre her.« »Wir sind jetzt ohnehin in der Nähe der Kreuzung, wo wir abbiegen sollen«, sagte Lina und drosselte das Tempo.
Grace entfaltete den Zettel mit Kates Anweisungen und fing an, laut vorzulesen.
Trotz des drohenden Regens gingen Reed und Kate querfeldein über eine Wiese, die gerade gemäht worden war. Der braune Hund, der allem Anschein nach jetzt unter Reeds Fahne marschierte, begleitete sie. Sie wanderten an einem fünfzig Morgen großen Feld entlang und sahen, wie die Heumaschine an der anderen Seite hereinfuhr und mit ihrer Arbeit begann.
»Er muß das Heu jetzt einholen«, sagte Kate, »auch wenn es vielleicht noch nicht trocken ist. Wenn Heu nach dem Schnitt auf dem Boden liegend wieder naß wird, ist es verdorben. Soviel Agrarkunde habe ich schon gelernt.« Gemeinsam beobachteten sie, wie die Maschine das Heu aufgabelte und es in ihrem Inneren – unsichtbar – zu ordentlichen, rechteckigen Ballen verwandelte, die sie dann in den Anhänger schleuderte. »Dabei zuzuschauen wird mir nie langweilig«, sagte Kate.
»Laß uns über den Bach steigen und den Hügel hinaufklettern«, sagte Reed. »Ich möchte mit dir reden. Ich weiß auch nicht, warum mich so eine Maschine in der Ferne in meiner Privatsphäre stört, aber sie tut es. Wollen wir über diesen Stacheldrahtzaun springen?« »Natürlich nicht. Deine Hosen werden irreparablen Schaden nehmen. Man legt sich demutsvoll auf den Boden und rollt sich unter ihm durch. So.« Kate vollführte das Manöver mit einer Eleganz, die auf Übung schließen ließ. »Man muß aufpassen«, fügte sie hinzu, »daß man sich eine Stelle ohne Kuhfladen aussucht.« »Vielleicht«, sagte Reed nachdenklich, »wenn ich früh genug angefangen hätte, Tennis zu spielen und über Tennisnetze zu hüpfen…« »Leute mit überschäumenden Kräften sind so anstrengend«, sagte Kate. »Dieser Sommer war voll von solchen starken jungen Männern. All diese jungen Männer, die in Leos Lager die Gruppe leiten, fangen nach acht Stunden mit den Jungen an, hitzige Basketball-Matches auszutragen, wenn sich jeder normale Mensch, meiner Meinung nach jedenfalls, mit einem kalten Drink ausstreckt. Aber es heißt ja, de gustibus…« »Kate?« »Ja.« »Willst du mich heiraten?« Kate starrte Reed einen Augenblick lang an, dann tätschelte sie seine Schulter. »Das ist sehr nett von dir, Reed, wirklich, aber nein, danke.« »Ich habe dich nicht gefragt, ob du mit mir Tee trinken gehst.
Mein Gott, ich habe schon erlebt, daß der Vorschlag, in ein bestimmtes Restaurant essen zu gehen, um einiges gründlicher überdacht wurde.« »Aber da gab es wahrscheinlich eine echte Wahl zwischen zwei Restaurants. William James hat das den Zwang der Wahl genannt.
Ich habe aber nicht vor zu heiraten.« »Was bedeutet: Es gab Männer, die du heiraten wolltest, und Männer, die dich heiraten wollten, aber es waren nie dieselben Männer. Wer hat das noch gesagt?« »Barrie. Das ist es nicht, was ich meine, Reed. Es ist eine Frage von Ausgefülltsein und Zeit.« »Mir war nicht klar, daß ich mit meiner scheuen Geliebten sprach.« »Weißt du, bis vor kurzem habe ich unaufhörlich darüber nachgedacht, was diese Worte bedeuten. ›Die jungen Liebenden‹ heißt es, und wir neigen dazu anzunehmen, daß damit gemeint ist: Das Leben ist kurz, die Jugend nur ein kurzer Moment, die Tage entfliehen.
Aber dahinter verbirgt sich Gewichtigeres. Ist dir nie aufgefallen, daß jedermann, den du kennst, entweder wirklich
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