In besten Kreisen
ist. »Ich nehme doch an, daß der Wagen vollkommen in Ordnung ist?« fragte sie auf möglichst beiläufige Weise. Lina, wie jeder sie nannte, grinste und ging mit dem Tempo auf schickliche fünfundfünfzig hinunter. »Tut mir leid«, sagte sie, »ich war wohl in Gedanken. Keine umwälzenden Ideen mehr bei mehr als sechzig Meilen pro Stunde, das verspreche ich feierlich.« Grace betrachtete die junge Frau interessiert und dachte: anders als die jungen Frauen zu meiner Zeit, die sich damals für eine Sache entscheiden mußten. Viele junge Damen von heute entschieden sich zwar immer noch für ein Haus in der Vorstadt, komplett mit Ehemann und Kleinkindern, aber auch Frauen wie Lina, die ihren Doktor machten und brillante Wissenschaftlerinnen wurden, fanden dennoch Zeit, mit dem Auto herumzufahren, tanzen zu gehen, zu kochen, zu lieben, und das alles mit gleicher Perfektion.
Lina hatte aber noch mit keinem Mann geschlafen, jedenfalls noch nicht wirklich, eine Tatsache, über die sie nachdachte, während der Tachometer wieder in die siebziger hinaufkletterte; sie hatte keine nennenswerten sexuellen Erfahrungen, und das galt, was ein Problem war, auch für William. Sie nahm sich vor, ihn an diesem Wochenende ein für allemal über den sich ständig erweiternden Abgrund ihrer beider Jungfräulichkeit hinweg zu stellen. Was war denn das für ein Bild! Sie stellte sich ihr eigenes Entsetzen vor, wenn sie so etwas in der Seminararbeit eines ihrer Studenten lesen würde.
Abgründe erweitern sich nicht, würde sie an den Rand schreiben, und schon gar nicht vor den Augen des Betrachters, um nur die unglücklichsten Stellen dieses schiefen Bildes zu benennen. Verdammter William. Verdammt. Verdammt.
»Tatsächlich«, sagte Grace, »würde es mir nicht das geringste ausmachen, zu Fuß zu gehen. Es tut mir leid, daß ich so ein Quälgeist bin, aber ich hatte einmal ein trauriges Erlebnis in einem Stanley Steamer, und Sie fuhren achtzig. Aber vielleicht sah es von hier nur so aus wie achtzig.« Lina ging wieder mit dem Tempo herunter und lächelte eine Entschuldigung. Die liebe Professor Knole. Eine schlechtangezogene Vogelscheuche, es gab kein anderes Wort für sie, so brillant sie auch war. William erzählte gern davon, wie sie zum ersten Mal zu einer Vorlesung in den Hörsaal kam und er gedacht hatte, die Putzfrau hätte den Verstand verloren und wollte einen Vortrag halten. Natürlich nur so lange, bis sie den Mund aufmachte. Sie war eine etwas unordentliche Person, stämmig, mit zipfelndem Rocksaum, der Waden und Knöchel umbaumelte, vernünftigen festen Schuhen und Haaren, die aussahen, als hätte sie sie selber mit dem Schälmesser bearbeitet. Und doch brachte sie es fertig, mit siebzig fünfundzwanzigtausend Dollar abzulehnen, die sie für das Abhalten eines Seminars über Chaucer bekommen hätte. Und warum hatte sie abgelehnt? Weil sie gerade etwas anderes vorhatte. Eine eigenwillige alte Schachtel, dachte Lina. Wieviel sie wohl in ihrem Leben verpaßt hatte… »Nach Kates Beschreibung«, sagte Grace, »muß ihr Haushalt eine recht unstete Mischung aus kleinen Jungen und James Joyce sein.
Ich verstehe von beidem nichts, klar, aber ich finde, man soll offen bleiben für neue Erfahrungen. Kürzlich habe ich ›Lady Chatterley‹ gelesen, nachdem das Buch wieder legal erschienen ist. Mir scheint, die arme Constance wußte einfach nichts mit ihrer Zeit anzufangen.« »Hätte sie einen Kurs über mittelalterliche Symbolik belegen sollen?« fragte Lina scherzend.
»Es gibt Schlimmeres; und in der Tat meine ich, das hat sie auch getan.« »Zwischen Joyce und Lawrence gibt es eigentlich keine Verbindung«, sagte Lina amüsiert. »Ganz im Gegenteil sogar. Soviel ich weiß, hat der eine das Werk des anderen verabscheut.« Professor Knole mochte die größte lebende Expertin in Sachen Mittelalter sein, doch alle Romane, die nach der industriellen Revolution geschrieben wurden, waren für sie eine infantile Zerstreuung, die mit der Zeit sogar Kinder ermüden würde. »Wie mir William schrieb, hat Emmet ein paar aufregende Briefe über die ›Dubliner‹ gefunden. Natürlich ist William in seiner Ausdrucksweise immer sehr vorsichtig; seine Briefe sind alle wie mit einem Blick auf die Geschworenenbank geschrieben.« »Was ist ›Dubliner‹ noch für ein Buch? Das ist nicht das, in dem Leopold Bloom vorkommt, oder?« »Nein. Das ist genau der springende Punkt. Die Geschichten in ›Dubliner‹ handeln von verschiedenen Leuten aus
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